Dreizehn Stunden
zurücklassen und an einer neuen Schule als Außenseiterin neu anfangen
müssen, in dem Bewusstsein, dass wieder alles nur vorübergehend sein würde. Mit der Zeit hatte sie sich immer mehr in ihre
eigene Welt zurückgezogen, meist hinter ihrer geschlossenen Zimmertür. Sie hatte ein peinlich persönliches Tagebuch geführt,
gelesen und geträumt – in den Jahren auf der höheren Schule vor allem davon, Sängerin zu werden, von vollen Sälen, stehenden
Ovationen, intimen Cocktailpartys mit anderen Prominenten und Prinzen, die ihr den Hof machten.
|107| Schuld daran war ihre Großmutter väterlicherseits, die einzige Konstante in ihrem Leben, bei der sie jeden Dezember die großen
Ferien verbrachte, in der Sommerhitze von Kirkwood im Sondagriviertal.
Ouma
Hettie war ihr Leben lang Musiklehrerin gewesen, eine energische, disziplinierte Frau mit einem herrlich angelegten Garten,
einem tadellos ordentlichen Haus und einem Baby Grand im Wohnzimmer. Es war ein Haus der Düfte und Töne: Marmelade und Aprikosenkompott
auf dem Herd, Plätzchen oder Lammkeule im Ofen, die Stimme ihrer Oma, die sang oder redete, und abends die lieblichen Klänge
des Klaviers, die aus den offenen Fenstern des kleinen blauen Hauses hinausschwebten, über die große Veranda, den grünen Garten
und die angrenzenden Orangenhaine hinweg bis zu den Hügeln von Addo und dem sich verfärbenden Horizont.
Früher hatte Alexa immer nur neben ihrer Oma gesessen und zugehört. Später, als sie die Texte und Melodien auswendig kannte,
hatte sie immer öfter mitgesungen.
Oma Hettie liebte Schubert und die Sonaten von Beethoven, aber am meisten mochte sie die Gershwin-Brüder. Nostalgisch flocht
sie ihre Geschichten zwischen den Liedern ein, zauberte »Rialto Ripples« und »Swanee« aus den Tasten, sang »Lady Be Good«
und »Oh, Kay!«. Sie erzählte Alexa, die Stücke seien von Kay Swift inspiriert, die George sehr geliebt habe, was ihn aber
nicht davon abgehalten habe, auch mit der bildschönen Schauspielerin Paulette Goddard ein Verhältnis anzufangen.
An einem drückend heißen Abend in ihrem fünfzehnten Lebensjahr hatte Oma Hettie plötzlich aufgehört zu spielen und zu Alexa
gesagt: »Stell dich da hin.« Brav hatte sie sich neben das Klavier gestellt.
»Und jetzt singst du!«
Und das tat Alexa, zum ersten Mal aus voller Brust. Sie stimmte »Of Thee I Sing« an und sah, wie die alte Frau die Augen schloss
und verzückt lächelte. Als die letzte Note in der schwülen Sommerluft verklang, hatte Hettie Brink ihre Enkelin angesehen
und schließlich auf Englisch – der Sprache, in der sie so viele Jahre unterrichtet hatte – gesagt: »Mein Schatz, du hast eine
perfekte Tonlage und eine außergewöhnliche Stimme. Du wirst |108| ein Star werden.« Dann zog sie das
Gershwin Songbook
von Ella Fitzgerald aus dem Stapel ihrer Langspielplatten.
Damit hatte der Traum begonnen. Und Oma Hetties offizieller Unterricht.
Alexas Eltern reagierten nicht gerade begeistert. Eine Karriere als Sängerin hatten sie sich für ihr einziges Kind nicht vorgestellt.
Sie wollten, dass sie auf Lehramt studierte. Etwas Solides, auf das sie »zurückgreifen konnte«. »Welcher Mann heiratet schon
eine Sängerin?«, hatte Alexa die Einwände ihrer Mutter nachgeäfft.
Während ihres Abschlussjahres in der Schule kam es zu heftigen Konflikten, langen und erbitterten Diskussionen im Wohnzimmer.
Alexa zog sich hinter ihre letzte Verteidigungslinie zurück, indem sie – im Gedanken an ihre Großmutter – hervorbrachte: »Das
ist mein Leben. Meines!«
Eine Woche vor dem Abschlussexamen ging sie zu einem Vorsingen des Dave-Burmeister-Orchesters.
An diesem Tag hatte ihr Lampenfieber sie fast überwältigt. Das Gefühl war ihr nicht neu. Sie hatte das bereits bei den Festivals
erlebt und vor ihren gelegentlichen Auftritten bei Hochzeiten und in kleinen Clubs mit obskuren Bands. Es war eine immer wiederkehrende
Heimsuchung, ein Teufel, der vier Tage vor dem Auftritt systematisch von ihr Besitz ergriff, so dass sie schließlich mit wild
klopfendem Herzen, schwitzigen Händen und der überwältigenden Gewissheit, dass sie sich bis auf die Knochen blamieren würde,
den Weg von der Garderobe zum Mikrofon nur mit übermenschlicher Willenskraft zurücklegen konnte.
Wenn sie dann aber anfing zu singen, sobald der erste Ton aus ihrer wie zugeschnürten Kehle drang, verflüchtigte sich der
Dämon, als sei er nie dagewesen.
Bei ihrem
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