Drift
wunderbare Wesen über den Weg gelaufen war. Dann aber eine warnende Stimme: »Mach denselben Fehler nicht noch einmal! Mach dein Glück nicht von einer Frau abhängig! Genieße ihre Gegenwart, liebe sie, aber das muss reichen!«
Martin wusste, dass die Stimme in seinem Kopf die Wahrheit sagte und es nicht um das schöne, zarte Mädchen mit der Traumfigur und den zauberhaften Augen ging, sondern darum, dass er sich auf etwas freute: auf die Insel, die er besuchen wollte, auf die Fahrt zur Insel und auf die Begegnungen mit Menschen, die ein ruhiges Leben in einem kleinen Dorf auf einer kleinen Insel führten. Und sollte er dem Mädchen begegnen, umso besser. Aber es ging auch um die Vergangenheit, die auf ihn wartete und ihn überwältigen würde, sobald er einen Fuß auf die kleine Felsinsel setzte, auf der er mit seinen Eltern hundert Mal Baden gegangen war. Er fragte sich, ob er das Lachen und das Geschrei seiner Brüder hören würde, wenn sie sich gegenseitig im Meer verfolgt und unter Wasser gedrückt und gespielt hatten, bis ihre Haut so verschrumpelt war, dass sie sich fast vom Fleisch löste; er schmeckte den Geschmack von Paprika und Salami, gemischt mit dem Salz des Meeres, in der die Paprika gewaschen worden waren und das ihm vom Haar aufs Essen getropft war – er freute sich auf einen Moment kindlicher Unschuld und zwar mit oder ohne dem Mädchen.
Die Frau in der Ticketeria war nicht besonders freundlich, aber wenigstens anständig, und ohnehin hätte Martin nichts so schnell die Laune verdorben. Als er fragte, erklärte sie ihm zwar mürrisch, aber korrekt, welche Fähre er nehmen musste (denn nur jede zweite ging von Preko, dem größeren Dorf auf der Insel Ugljan, hinüber auf Skolj, den kleinen, dicht bewaldeten Felsen, auf dem es keine Ortschaft, sondern nur gerade ein paar Häuser und ein Restaurant gab); |66| Martin bedankte sich, zahlte, und sie drückte ihm die Fahrkarten in die Hand und zog das kleine Glasfenster zu; noch bevor das Fensterchen ganz geschlossen war und Martin seine Tickets falten und einstecken konnte, hatte sie sich eine Zigarette angezündet und mit einem tiefen Lungenzug und unendlicher Erleichterung die Füße auf ein Tischchen in der hinteren Ecke der Kabine gelegt und die Beine gestreckt: Feierabend.
»Bevor es zum Abendessen geht, noch ein Bier«, dachte Martin und verschwand durchs Haupttor der uralten, breiten Stadtmauer in den schmalen Gassen zwischen den Häusern. Einige Minuten später landete er in einem Gärtchen, das aussah, als wäre es gezeichnet: ein kleiner Brunnen, ein Kiesweg drum herum, kleine Tischchen, grüne Hecken und an einigen Stellen sogar richtiger Rasen. Ein Ort, an dem er noch nie gewesen war, was ihn doch einigermaßen verwunderte, schließlich kannte er die Stadt seit seiner frühesten Kindheit.
Er setzte sich an einen Tisch und wartete, bis die Bedienung kam. Und plötzlich war sie wieder da: Helena.
Die Pläne mit der Insel, die gute Laune, das schöne Mädchen, alles auf einen Schlag wie weggewischt: Er sah Helena vor sich, sah sie lächeln, sein Gesicht in ihre zarten Hände nehmen, ihn küssen und lachen, und Martins Herz verkrampfte sich, dass er nach Luft schnappen musste, so sehr verzehrte er sich nach ihr. Wieso nur konnte sie nicht mit ihm an diesem zauberhaften Ort sein?
»Himmel!«, dachte er und schaffte es endlich, seine Lungen zu füllen und die Tränen zurückzuhalten. »Was bist du für eine miese kleine Memme!«, fluchte er innerlich. »Zum Kotzen.«
»Kellner!«
Verdammt noch mal.
|67| WESPE
Man bleibt auf dem Hügel liegen, die halbe Nacht lang, zwischendurch, wenn man kurz zu sich kommt, geht man weiter, weiß nicht, ob es der richtige Entschluss gewesen ist, sich nicht zu erschießen, und man hadert, hadert die ganze Nacht lang, immer, wenn das Bewusstsein zurückkehrt, ein Zirkel von links nach rechts und zurück und immer im Kreis herum, Leben, Sterben, was zum Teufel ist schon der Unterschied?
Es liegt auf der Hand, man muss leben, so lange man kann, Sterben ist ein Luxus, auf den alle, die man zurückgelassen hat, verzichten möchten, und der Mond und die Insel lassen einem keine Chance, der Anblick ist zu stark, Ewigkeit bis auf die Knochen.
Also legt man sich wieder hin, die Pistole auf dem Herzen und die Gedanken bei der Familie, bei den Eltern, bei den Brüdern, manchmal auch bei der Freundin, die man zu lieben glaubt, aber es sind die Visionen, die einem zu schaffen machen, die Visionen der Eltern,
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