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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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zwanzig Minuten wird einem bewusst, dass man sich weit hinter der letzten Straßensperre befindet und vermutlich mitten zwischen den Fronten und dass der Blick durch die Zielvorrichtung einer Haubitze auf der Bergspitze ein wunderbar leuchtendweißes Objekt zeigt, das sich im Mondlicht auf der Küstenstraße, die auf der rechten Seite vierzig Meter tief zum Meer abfällt, gegen Süden bewegt, was einem die |58| Haare zu Berge stehen lässt; hoffentlich sind auch die Typen an den Haubitzen gute Männer und schlafen …
     
    Gott beschützt Idioten, Betrunkene und Kinder, sagt der Volksmund, und man ist alles zusammen, wie einem die Mutter immer wieder vorgehalten hat, und bisher immer noch am Leben, aber wo zum Teufel ist die nächste Straßenverbreiterung, der nächste Wendeplatz, kein Baum, kein Schatten, keine Möglichkeit, den Wagen zu verstecken, und so lässt man ihn, als man es einfach nicht mehr länger erträgt, ein derart wunderbares Ziel abzugeben, am Straßenrand stehen, riskiert jedoch noch eine Minute und schreibt im stehenden weißen Ziel mit einem Kugelschreiber, der fast keine Tinte mehr hat, eine Notiz auf einen Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer der Besitzer, der Eltern, dann zieht man den Schlüssel ab und legt ihn auf den gut sichtbar positionierten Zettel auf den Beifahrersitz, bevor man mit heraufgezogener Türfalle den Knopf auf der Innenseite drückt und so die Tür gleichzeitig schließt und abschließt.
     
    Ein letzter Blick auf den Wagen, den man ohne Schraubenzieher und ein langes Stück Draht im Notfall nur mehr durch Einschlagen einer Scheibe öffnen könnte, dann rennt man über die Straße und beginnt, die Felsen hochzuklettern, die man als Kind so gerne erklommen hätte, aber nie durfte, und die glatt besohlten Stiefel sind nicht unbedingt das ideale Schuhwerk für dieses Unterfangen, aber man hat wenigstens Lederhandschuhe an, dank derer man kräftig zugreifen kann, ohne sich dabei die Hände am scharfkantigen Gestein aufzuschneiden, was einen öfter mal davor bewahrt, den Halt zu verlieren, abzustürzen und sich dabei im günstigsten Fall umzubringen; man klettert lange und dann wird die Steigung flacher, das Gelände, wenn auch mit Vorsicht und mühsam, doch langsam aufrecht begehbar, und jetzt kommen einem die Stiefel zugute, die die Knöchel schützen, jedes Mal, wenn man von einem losen Stein abrutscht |59| und irgendwo zwischen Steinen und Felsen auftrifft, und als man sich endlich, vollkommen außer Atem, umdreht, um zu sehen, wie hoch man den Berg schon erklommen hat, erschrickt man darüber, wie weit unten das Meer ist, und ebenso über den atemberaubenden Anblick, der sich einem bietet: Das silberne, vollkommen bewegungslose Meer, der tief liegende Mond, der weit draußen über einer Inselkette leuchtet, und gleich unterhalb des Berges, nahe der Küste, dieser weiße Fels, der aus dem Silbermeer herausragt, eine Insel, kahl und kalt, man erkennt sie, es ist die Nackte Insel, Goli Otok, das Alcatraz des ehemaligen Jugoslawien.
    Was man sieht, ist so unbeschreiblich schön und majestätisch, dass man sich unweigerlich hinsetzt, erschlagen von der Größe des Schauspiels, der Perfektion des Bildes, und man erstarrt vor dem Schöpfer und will schon in sentimentales Geheul ausbrechen, als schweres Feuer durch die Nacht hallt, das einem einen Schock durch die Knochen jagt, Angst und Wut zugleich schnüren einem den Hals zu; wie kann es sein, dass solches unter demselben Himmel existieren kann, existieren darf, diese unübertreffliche Schönheit und die unendlich hässliche Fratze des Krieges im Hintergrund, und während Granaten einschlagen, Maschinengewehre Salve um Salve abfeuern und die Insel und der Mond vor den jetzt aus Ohnmacht tränenden Augen zu verschwimmen beginnen, wird einem bewusst, dass man drei Patronen hat, zwei zu viel.
    Auf keinen Fall will man Teil dieser Hässlichkeit sein, nicht in diesem Moment, man will niemanden umbringen, ob irrtümlich oder mit Absicht, das heißt niemanden außer vielleicht sich selbst, und man greift in die Jackeninnentasche, nimmt die schwere Pistole raus, sucht nach dem Sicherungshebel und findet ihn sofort, lädt durch und schießt zwei Mal auf einen Felsen in einiger Entfernung und ist überrascht, als man merkt, dass man ihn getroffen hat und dabei das Gefühl hatte, als würde man den Stein anfassen, in dem Moment, in dem die Kugeln einschlugen, es war, als hätte man den Finger auf die Einschussstellen gedrückt.
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