Drift
wie sie vor dem eigenen Grab stehen und auf einen hinunterschauen, gebrochen, die Brüder, bleich, wohin, was, warum, nein, es geht nicht, und irgendwann verändert sich das Licht, der Mond scheint nicht mehr, kämpft verzweifelt gegen die Sonne an, die ein Rosa vorausschickt, das einem das Herz bricht, und man weiß wieder, dass man leben will, und sei es, um nur noch einen solchen Moment zu erleben, da hört man ein Bimmeln, das leise Bimmeln von Glöckchen, und schon ist es wieder weg und man denkt, man halluziniert, wäre auch kein Wunder nach drei Tagen ohne Schlaf, nach einer Nacht, in der man wachgelegen hat wie ein Medizinmann in Trance, ein suizidaler Schamane ohne das Wissen seiner Vorväter, und man wünscht sich, man hätte deren Hilfsmittel, geflogen wäre man und hätte den Schmerz nicht gespürt, wäre vielleicht gesprungen und wieder im Bett erwacht, tausend Kilometer nordwestlicher, ein Castaneda Dalmatiens, aber dann hätte man sie vielleicht nicht |68| gesehen, die kleine Wespe, die im Zick-Zack gerade auf einen zugeflogen kommt; was zum Henker tut sie hier, fragt man sich, es gibt doch hier nichts zu fressen für dich!
Du Dummerchen, möchte man ihr zurufen, und es kommen einem die Tränen angesichts dieser kleinen Kreatur, was ist sie filigran und doch lebt sie ihr Leben ohne Murren, ohne Wenn und Aber, und sie setzt auf der rechten Stiefelspitze auf, nachdem sie ein, zwei Runden um einen herum gedreht hat, es fühlt sich an, als spürte sie, in welchem Elend man sich befindet, umarmen möchte man sie für ihre Gegenwart, dieses kleine Ding, begnügt sich aber damit, mit ihr zu reden, Franz von fucking Assisi, um Gottes willen, nein, nein, es ist ein Leben, das zu leben sich lohnt, und sei es nur, um andere umzubringen, wie die Wespe, diese kleine, brutale Mörderin.
Die Freundin hat geweint in dieser Nacht, in den Bildern, die man vor dem inneren Auge gesehen hat, sie hat geweint und man war sich sicher, dass sie denselben Traum gehabt hat in dieser Nacht, und die Eltern auch, denn mittlerweile mussten sie die Notiz gefunden haben, es konnte nicht sein, dass sie diese Nacht nicht in Angst verbracht haben, und man hasst sich dafür, wie konnte man ihnen das antun, die Tränen der Mutter, die Sorge des Vaters, für nichts und wieder nichts, aber hätte man ihnen sagen können, man wolle in den Krieg, sterben für ein Heimatland, in dem man nie gelebt hat, das selbst nie nach einem verlangt hat, verteidigen, beschützen, ja wen denn, eine Idee, ein Ideal? Und man denkt an Franco, diesen Wichser, und all die jungen Männer und Frauen aus ganz Europa und der ganzen Welt, die kamen, um Menschen zu verteidigen, die Besseres verdient hatten, und wo sind sie jetzt, die Männer und Frauen aus Europa und der ganzen Welt, wo bleibt ihre Hilfe, hätte man zu den Eltern gesagt, und sie hätten es vielleicht eingesehen, aber man hat es nicht getan, auch weil man das Auto nicht bekommen hätte, auf gar keinen Fall.
|69| Die Wespe riecht die Tränen, spürt den Schmerz, denn sie sitzt immer noch da, und als man sie bittet, näher zu kommen, man werde sie auch nicht zerdrücken, da flattert sie mit ihren Flügeln, erhebt sich langsam wie ein kleiner Helikopter und dann neigt sie die Flügel nach vorn und nähert sich einem ohne Hektik, und man weiß nicht, ob man die Hand ausstrecken soll oder ob man sie damit erschrecken würde, aber sie hat keine Angst, kein bisschen, sie kommt näher, riecht am Lauf der Pistole, sie mag den Schwefel, der kleine Teufel, und man sieht ihre Beißzangen, weiß, dass sie damit andere Kreaturen umbringt, glatt halbiert, und es ist, als untersuche sie die Pistole, um zu sehen, ob man ebenbürtig bewaffnet sei.
Sie setzt sich auf den linken Unterarm, auf das weiche Leder, das sich in der Morgensonne, die alles in Rot taucht, langsam erwärmt und beinahe orange leuchtet, und sie schaut einen an aus tausend Augen, als wollte sie einem sagen, es sei die richtige Entscheidung, weiterzuleben, weil zu leben auch ihr bestimmt sei und man nicht wissen kann, wann der Vogel kommt, der sie frisst, oder wann ein Feind einen erschießt, mach einfach weiter, scheint sie zu sagen, friss, töte und stirb, wenn deine Zeit gekommen ist.
Die Sonne gewinnt den Kampf auf ein Neues, löst den Mond ab und man kann die Inselkette in der Ferne erkennen, wie sie in die Strahlen getunkt wird, und das Rot wird intensiver und da kommt sie hervor, erhebt sich in aller Selbstverständlichkeit, die
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