Drift
Männern und Frauen, die irgendwo in Gräben liegen oder in Häusern verschanzt um ihr Leben kämpfen und um das ihrer Liebsten, Verwandten, Nachbarn und jeder Seele, für die es zum Sterben noch zu früh ist und für die zu sterben es sich lohnt? Um etwas anderes geht es nicht in diesem Krieg, nicht auf der Seite, auf der man selbst steht und für die man kämpfen will: Selbstverteidigung, reine Selbstverteidigung. Sollen die Diplomaten schwätzen, was sie wollen: Wenn auf einen geschossen wird, ohne dass man zuvor selbst auf jemanden geschossen hat, ist es Selbstverteidigung und man wird sich wehren und zurückschießen; man hat das Recht, ja die Pflicht dazu, greift in Gottes Angesicht niemanden an, der es nicht verdient hat, Leid zu erfahren, man versucht nur, am Leben zu bleiben. Und wie, verflucht noch mal, ist scheißegal; da vorn ist der Krieg und da geht es hin und die Stiefel bleiben weniger oft an Steinen und Felsen hängen, sehen kann man nur wenig, doch als die Kanonen schweigen und der Himmel sich beruhigt, kniet man nieder und sieht im Mondschein einen schmalen Weg, einen Pfad, der Ziegenjunge könnte hier entlanggegangen sein oder seine Brüder und Väter, büschelweise wächst Gras aus der festgetretenen Erde, |87| hier, das ist es, hier geht’s entlang, diese Richtung muss es sein: Man erhebt sich, schreitet aus, länger die Schritte, leichter das Herz mit jedem, den man macht, und man weiß, man wird ankommen, irgendwo, man wird erwartet, sagt einem der Pfad, und man geht auf ein Ziel zu, das an seinem Ende wartet, und dort gibt es etwas zu tun.
Angst, als die Waffen schweigen. Panik, als der Mond für kurze Augenblicke hinter Wolken verschwindet. Dankbarkeit, als sie vorüberziehen und den Mond weiterleuchten und ihn den Weg weisen lassen: In einiger Entfernung ein Haus, es könnte auch ein Fels sein, wäre nur etwas seltsam geformt, denkt man, erfreut darüber, dass man wieder denkt, nicht träumt, man ist da, angespannt, vorsichtig, das Leben zählt wieder was, und sei es, um andere auszulöschen. Bewegung beim hausförmigen Felsen, eine Figur, die ihn betritt, deutlich, der Fels ein Haus und die Linie in fünfzig Metern Entfernung eine Steinmauer, wie sie hier überall Gelände ummauern, duck dich, sie sehen dich, sie könnten schießen, weshalb sollten sie nicht?
Aus der Hocke ein Blick über das Feld vor dem Haus, einige hundert Meter bis zum Waldrand, woher die Salven gekommen sein müssen, sagt einem der Nachhall in den Gehörgängen, Schüsse von geradeaus, vom Felshaus aus, Salven von rechts, wo der Wald ist. Was tun? Warten? Warten worauf? Dass wieder geschossen wird, vielleicht? Wär das ein Vor- oder ein Nachteil? Wer steht auf welcher Seite? Geradeaus, das müssten die eigenen sein, rechts die Feinde, so sagt die Karte im Kopf, so meint man die Beschreibung des Offiziers zu rekapitulieren.
Warten macht müde.
Und als hätte man Leuchtfarbe im Gesicht, prasseln bei dieser Feststellung Geschosse um einen herum auf die Steine und die Erde ein, pfeifen einem am Kopf vorbei, sie kommen von rechts, daran besteht kein Zweifel, sie kommen vom Wald aus, auch wenn keine Leuchtmunition die Position verrät, fühlt man die Flugrichtung von |88| Kugeln, die einen beinahe streifen, fühlt sie, ohne dass sie treffen; schneller hingeworfen hat sich kein Körper, schneller rollen könnte sich keiner; zur Seite, dann Robben, Richtung Mäuerchen, Richtung Haus, in Richtung dunkler Gestalten, die im Eingang stehen und angespannt darauf warten, was da auf sie zugekrochen kommt – man wird rennen, ja fliegen müssen, Pistolen liegen lassen und später holen, vielleicht.
»Parole!«, schreien zwei Stimmen, man sei ein Freund, schreit die eigene zurück, Parole oder wir schießen, und man stoppt auf dem Bauch liegend einen halben Meter vor dem Mäuerchen und hält die Hände hoch, so weit es geht, schreit, man sei Kroate und habe sich verirrt. »Komm langsam her!«, befiehlt eine Männerstimme und man lacht hysterisch. Das würde man ja gerne tun, sagt man schließlich, und die Gestalten realisieren, dass die Kugeln genau auf die paar Meter zwischen Haus und dem Mäuerchen einschlagen, unaufhörlich, in Dreiersalven. »Moment«, sagt eine Stimme, und man könnte schwören, es sei die einer Frau, und dann wird hektisch geflüstert, gezischt, und plötzlich aus dem oberen Geschoss des Hauses ein Schuss und von der Tür aus ein »Los, jetzt!«, und man fragt sich, ob die Pause des Kugelhagels wirklich
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