Drift
Mehrheitsentscheid.
Es dauert eine Weile, aber man kommt wieder zu sich. Und es sieht schlecht aus – ein paar Minuten noch und es wird stockfinster sein; war gestern nicht Vollmond? Man sucht den Himmel ab und da ist er tatsächlich, schwächlich weißgrau noch, wie eine Glühbirne auf einem halben Watt, aber man kennt ihn und man kennt seine Sonne, sie wird ihm den Strom liefern und er wird leuchten für einen, wie er es immer getan hat: Ich danke dir, mein |81| Alter, danke. Man wird weitergehen können, ohne sich dabei das Genick zu brechen.
Das wieder aufgestartete Gehirn produziert Gesichter, Stimmen, Gegenden und Gefühle, statt Trance jetzt ein fortwährender Traum, man versteht nichts, erkennt kaum etwas, taumelt durch den Sturm, bis man im Durcheinander der Töne, Klänge und Stimmen eine festmachen kann, und es ist die der Mutter und sofort erscheint ihr Gesicht vor einem Mosaik verschiedener Bilder, dann das Gesicht des Vaters und sie sind traurig und Mutters Stimme zittert, und obwohl man sie nicht versteht, weiß man, was sie sagt, und das Herz zieht sich zusammen und saugt einem das Blut aus den Adern und man fleht sie an, sich keine Sorgen zu machen, alles ist gut und man ist am Leben, sagt man und versucht sogar zu erklären, wo man ist und weshalb, doch man schafft es nicht, denn die Gesichter von Mutter und Vater verschwinden im Strudel der Traumbilder, während man noch nach den richtigen Worten sucht, und man schickt ihnen einen Gruß hinterher und ruft in das Chaos, dass man sie liebt, daraufhin ein Aufblitzen durch den Strudel an Bildern, ein, zwei Lächeln, die Eltern, die einen gehört haben, und man weiß, wie sehr sie einen lieben – pass bloß auf sie auf, lieber Gott, denkt man, pass auf die Eltern und die Brüder auf, und wie man das denkt, lösen sie sich auf und man steht vor einem steinernen Berghang in der Dämmerung und versucht, sich zu erinnern, wann das wohl war und wo, irgendwann in der Kindheit muss es gewesen sein, und man blickt um sich und fühlt einen stechenden Schmerz im Hinterkopf und hört eine Stimme, die schreit »Dummkopf«, dann noch zwei, die schreien »Pass doch auf, verdammt«, und es sind die Hände und das linke Knie (dessen Stimme ein wenig lauter ist als die des rechten, seit man seinen Meniskus beim Fußball ruiniert hat), sie fluchen alle zusammen und plötzlich ist der Berghang ganz nah.
|82| »Zeit für eine Pause«, denkt man und fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis man zusammenklappt, dehydriert, überanstrengt und ausgezehrt hinfällt und sich den Kopf aufschlägt, um für immer liegen zu bleiben – ruhig, ganz ruhig, mein lieber Freund; schau, wie weit unten das Meer ist, schau, wie flach der Hang, auf dem du gehst, da, sieh nur, da wachsen Grasbüschel durch die Steinritzen, na los, zieh den Handschuh aus, berühr’ sie, fühl sie, na, da hast du’s, noch ein Stückchen weiter und du gehst auf Moos, und da wird irgendwo Wasser sein und du wirst dich unter eine Quelle legen und trinken, so viel du willst, weiter, los, weiter! »Weiter!«, jubelt das Herz in der Mondnacht und pumpt und pumpt und pumpt Blut, und man ist schon ganz schön weit oben und keine hundert Meter weiter vorn, da geht es nicht mehr aufwärts, sondern leicht abwärts, man ist oben, oben auf dem Kamm – Moment, wo ungefähr war noch mal der Frontverlauf, was hatten sie gesagt, die Soldaten, als sie sich für die Nachtpatrouille bereitmachten? – und dann, in exakt diesem Augenblick, als hätte die Frage auf den die Hölle auslösenden Kriegsknopf gedrückt, grollendes Donnern, Stakkato-Peitschen, der dunkle Himmel in der Ferne wird durchbohrt von grünen, gelben und roten Pfeilen, schrilles Gebell von Maschinengewehren, schmetternde Explosionen, trommelfellzerreißendes Pfeifen in den Ohren, und der Körper antwortet vor dem Geist und wirft sich hin, man verschränkt die Arme über dem Kopf, und da dämmert’s und stottert’s: »Krieg!!!!«
Und man liegt mitten drin.
|83| KOCHEN
Martin hatte die Einkäufe im Kühlschrank verstaut und saß rauchend, die Beine übereinandergeschlagen, auf dem Sofa in der Küche.
Er dachte an Helena und wusste nicht, wie und ob er überhaupt versuchen sollte, ihr seinen Plan schmackhaft zu machen. Hauptsache war, er schaffte es, sie lange genug bei der Stange zu halten. Ein halbes Jahr noch, ein Jahr vielleicht, länger konnte das nicht dauern. Und dann würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten und mit ihm um die Welt
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