Drift
Splitter von der Decke prasseln auf einen nieder und Kugeln |93| klatschen gegen die Wand rund um das Loch, durch das man zielt, und der Lärm ist schlimmer, als man sich das je hätte vorstellen können, das Zimmer hämmert auf einen ein, mit jedem der Schüsse aus einem der beiden Gewehre wird man tauber, und während man zitternd versucht, seine Körperfunktionen wieder unter Kontrolle zu bekommen, dreht sich Boro zu einem um und im Blitzgewitter des MGs hinter ihm sieht man zum ersten Mal sein Gesicht, eine wuterfüllte Fratze enormen Ausmaßes und Augen und ein Mund, die einem am liebsten auf der Stelle den Kopf abbeißen würden, und Boro schreit einen aus voller Kehle an: »Worauf wartest du? Schieß, du verdammter Hurensohn! Schieß!« Und als hätte man einen nassen Lappen ins Gesicht geschlagen bekommen, ist man auf einen Schlag wach und das Adrenalin pumpt einem durch die Adern und man sieht sie deutlich, die Feinde, jeden einzelnen, wie sie aufstehen, schießen und sich wieder hinwerfen, robben, rennen, schießen und sich wieder hinwerfen, schießen, schießen, und dann schießt man selbst und das Gewehr reißt einem fast die Schulter weg und irgendjemand muss das Gewehr so eingestellt haben, dass es auf etwa hundertfünfzig Meter stimmt, denn die Figur, auf die man geschossen hat, fällt um, und weil man nicht sicher ist, ob man sie selbst erschossen hat, schreit man: »Auf welche soll ich schießen?«, und Boro schreit zurück: »Auf die links von dem, den du grad abgeknallt hast!« Und schon hat man auf einen nächsten geschossen und mit der zweiten Kugel niedergestreckt und man wird nie wieder der sein, der man noch vor einer Minute war, nie wieder derselbe, aber das ist kaum ein Gedanke, mehr ein Geschoss von einem Gedanken, der ebenso schnell an einem vorbeizischt, wie die Kugeln der Feinde, die durch die Löcher, die von gröberem Geschütz in der Hausmauer hinterlassen worden sind, in die Rückwand des Zimmers und in die Decke einschlagen, und man schießt weiter, und als das Gewehr leer ist und man nachladen muss, rollt man sich zur Seite, als hätte man ein Leben lang nichts anderes getan, als sich zur Seite zu rollen, das leere Magazin zu entnehmen |94| und das neue reinzuschieben, man lädt durch, rollt sich zurück und schießt in derselben Position wie vorhin weiter; die meisten trifft man beim ersten Schuss, etwa ein Viertel mit dem zweiten und diejenigen, die man auch nach dem zweiten Schuss nicht erledigt hat, werden jedes Mal, noch bevor man einen dritten Versuch starten könnte, von einem der beiden Schützen oder von jemandem aus dem unteren Stockwerk erschossen.
Wie lange die Schießerei dauert, weiß man nicht, man schießt und man trifft, es sind keine Menschen mehr, auf die man schießt, noch nicht, es sind schemenhafte Figuren in einer surrealen, schwarzweißen, fremden Welt, und je näher das Mündungsfeuer, desto besser ist das Gefühl, wenn man einen der Gegner, der gerade auf einen gefeuert hat, trifft und keine Kugeln mehr aus dessen Waffe folgen.
An das Geschrei und den bellenden Lärm der Gewehre, Maschinenpistolen und Maschinengewehre hat man sich nach Minuten gewöhnt, es ist nicht die Welt, in der man seit neunzehn Jahren lebt, es ist auch nicht der Krieg, wie man ihn sich vorgestellt hat, es ist, als wäre die Zeit angehalten worden, als geschähe alles in einem zeitlosen, luftleeren Raum: Man lädt durch, zielt, wartet, bis der Körper sich aus der Wiese erhebt, und drückt ab, spürt im Augenblick, in dem die Kugel die Mündung verlassen hat, ob sie ihr Ziel treffen oder verfehlen wird, und es ist, als spürte man, wie sie hart auf den Körper trifft, wenn sie es tut, es ist, als entstünde der Rückschlag des Gewehres überhaupt nur, weil die Kugel ihr Ziel getroffen hat; wenn Gedanken, dann sind es nur solche, die die Treffsicherheit erhöhen, wie zum Beispiel: Man trifft besser, wenn man ausatmet, die Luft kurz anhält und abdrückt – am besten zwischen den Schlägen des Herzens –, und ziele ein bisschen tiefer und einen halben Meter weiter voraus in der Richtung, in die sich der Gegner bewegt. Manchmal zielt man auch auf die andere Seite des Baumes, wo einem das Gefühl sagt, dass der Schatten, der sich hinter dem |95| Baum versteckt hat, gleich auftauchen wird, und man hat schon abgedrückt, als das Auge den Schatten sieht, als er schließlich hervorkommt, und es ist ein tiefes Gefühl der Befriedigung, wenn der Getroffene sich um die eigene Achse dreht
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