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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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dass er den Blick nicht ein einziges Mal von seiner Zielvorrichtung genommen hat. »Ja«, wiederholt man, man schieße nur auf die, die er einem nennt, und man werde gut zielen, bevor man schießt.
    »Gut«, so die geknurrte Antwort und dann ist Stille. Zum Glück ist Boris nicht auf der gegnerischen Seite, denkt man.
     
    |91| Man sieht nichts. Versucht, Kimme und Korn auf eine Linie zu bringen. Man wird nichts treffen, dessen ist man sich plötzlich sicher. Aber man sagt nichts. Wer weiß, vielleicht hat man Glück. Man weiß, dass man die Kimme verstellen und damit die Entfernung regulieren kann. Aber man wird einfach höher oder tiefer zielen. So lange sich nur der Schlitz und der Spitz auf einer Linie befinden, wird man früher oder später treffen. Aber was nur? Wen? Das Mondlicht zeigt einem eine schwarzweiße Landschaft: eine Wiese, einen Acker, ein Feld, einen Wald. Rechts der Hügel, über den man gekommen ist, keine Möglichkeit, dort in Deckung zu gehen. Und der einzige Grund dafür, dass man nicht erschossen worden ist, ist der, dass niemand in die Richtung geschaut hat, aus der man gekommen ist, weder die eigenen noch die anderen; dort spaziert man nicht herum, von dort aus schleicht man sich nicht mal an.
    Weiter vorne rechts beginnt der Wald und zieht sich in einem leicht geschwungenen Bogen bis weit nach links, wo er hinter einem Hügel verschwindet; man befindet sich in einem kleinen Tal zwischen zwei Hügeln, so viel steht fest. Aber wo die Feinde sein sollen, die Ziele, keine Ahnung, man sieht sie nicht. Keiner sagt was, auch aus dem Erdgeschoss ist kein Laut zu hören. Die Spannung, die Euphorie, da zu sein, wo man ist, und innerhalb von knapp vierzig Stunden aus dem wohlbehüteten Elternhaus in einem Tal im Krieg angekommen zu sein, mischt sich in die Angst und Unsicherheit – man weiß, man könnte jetzt nicht nur erschossen werden, sondern jemand will einen ums Verrecken erschießen. Man befindet sich ebenso auf der anderen Seite eines Gewehrlaufs wie die anderen, und dass man sie nicht sehen kann, macht einen fertig. Man sitzt in einem Haus, ihr Ziel ist definiert, man selbst hat aber mehrere Hundert Meter Wald und ein paar Hektar Feld, hügeliges Feld mit ungemähter Wiese vor sich; es führt kein Weg daran vorbei, man muss fragen, sonst wird man zu nichts nutze sein.
    Man flüstert, so leise man kann.
    »Bitte entschuldige, aber sag bitte, wo ich suchen muss, kann niemanden |92| sehen!« Und als wäre das Gefragte die einzige Rechtfertigung für die Existenz des Fragenden, antwortet der riesige Schatten, der unbeweglich wie eine Statue, das Gewehr im Anschlag, aufs Feld hinaus zielt, zum ersten Mal freundlich und man ist froh darüber, eine Frage gestellt zu haben, die man offenbar stellen darf. »Siehst du den Baum, dessen Krone einen Knick nach links macht, als zeige sie in Richtung des Hügels auf der linken Seite?« Man sucht. »Elf Uhr«, sagt die Stimme und man sieht in die Richtung und sieht die Krone, ein gekrümmter Finger, denkt man und sagt, man sehe den Baum. »Der zweite Baum rechts davon«, flüstert der Soldat, »aber beweg dich nicht, wenn du etwas erkennst, du bewegst dich nicht, oder ich bring dich eigenhändig um!«
    Man zählt. Eins, zwei, und da sind Umrisse, denkt man, aber es könnten auch Äste sein, die tief wachsen oder weit nach unten hängen, da sieht man etwas aufblitzen und unterdrückt den Reflex, den Kopf zur Seite zu ziehen, denn es ist ein Zielfernrohr, so viel steht fest – festgefroren flüstert man jetzt fast buchstabierend, ob das Reflektierende das sei, was man denkt, und die Antwort lautet: »Ja«, und man wird von Baum zu Baum dirigiert, dann auf die Wiese, wo Halme niedergedrückt fehlen, und nach und nach setzt einen der anfangs so barsche Soldat geduldig ins Bild, aber als man endlich den Überblick hat und die etwa dreißig Soldaten gezählt hat, die man gezeigt bekommen hat, und sich dafür bedanken will, bekommt man ein »Halt die Schnauze!« entgegengeschleudert und man begreift, dass es nicht Freundlichkeit war, die zur detaillierten Aufklärung geführt hat, sondern Überlebenswille, und man denkt sich auch, dass es vermutlich nicht Barschheit ist und Wut über den unwillkommenen Gast, sondern Konzentration, die Boris so abweisend macht.
    »Boro«, flüstert der Soldat vor dem Loch bei der Zimmertüre, der Soldat von der Treppe, »ein Uhr!« Und gleichzeitig mit Boros Schuss leuchten Waldrand und einzelne Flecken in der Wiese auf und

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