Drift
Kommentare nicht allzu dumm waren – und das waren sie in diesem Fall nicht.
|131| Nach einer Weile gedankenverlorenen Beobachtens konzentrierte sich Martin wieder auf die Fähre und ihren Kapitän. Er bewunderte die Leichtigkeit, mit der dieser das Tausende Tonnen schwere Schiff von der Anlegestelle weg durch den kleinen Hafen und dessen enge Ausfahrt hinaus aufs Meer manövrierte, als wäre das die selbstverständlichste Sache auf der Welt.
»Der macht das gut vierzig Mal am Tag.« Martin sah über die Schulter.
»Wie meinen?«
»Na, der Kapitän. Der macht das gut vierzig Mal am Tag. Zwanzig Mal auf dieser, zwanzig Mal auf der anderen Seite.«
»Ich finde es trotzdem erstaunlich.«
»Jaja, ist es ja auch.«
Der Mann war um die siebzig Jahre alt, schätzte Martin. Sein Blick wirkte verschwommen, wie der der meisten alten Leute, aber Martin hatte das Gefühl, als könnte der alte Mann in sein Innerstes sehen.
»Wo geht’s denn hin?«, fragte der Alte.
»Skolj.«
»Baden?«
»Mhm.«
»Ist schön dort. Nur die Zikaden machen einen unglaublichen Krach um diese Jahreszeit.«
Martin lächelte. Das hatte was. Man musste schon ziemlich müde sein, wollte man zwischen den Pinienbäumen am Ufer einschlafen. Aber Martin war ja nicht da, um zu schlafen. Er wollte ein wenig lesen, sich erinnern und – na ja, vielleicht – das Mädchen finden.
»Die Zikaden kümmern mich nicht. Nicht heute.«
»Ein besonderer Tag?«
Was sollte er darauf antworten? War es ein besonderer Tag?
»Irgendwie schon.«
»Ein Besuch?«
Unheimlich, dachte Martin. Ob er auch so sein würde, im Alter?
|132| »Ja, tatsächlich.«
»Ein Mädchen.«
Martin überlegte. Ein Mädchen, hatte der Alte gesagt. Eine Frau, die ihn nicht mehr wollte, und ein Mädchen, das er nicht kannte, ein Leben, das er nicht wollte, und ein Leben, von dem er noch nichts wusste.
»Kopf hoch«, sagte der Alte.
»Ja«, antwortete Martin. »Kopf hoch.«
Der Alte drehte sich weg und Martin schloss die Augen, die frühmorgendliche Sonne im Gesicht, und er dachte, das ist es, das muss es sein, diese Sonne, dieser Geruch von Meer und Schiffsmotorendiesel, dieses leise Brummen und das konstante Klatschen der Wellen gegen den Bug; hier gehörte er her.
Und wie zur Bestätigung für seine Entspanntheit fiel er sogleich in einen leichten Schlaf, leicht wie der Flug der Möwen, die über ihm kreisten.
Vor seinem inneren Auge ihre großen Augen.
Die des Mädchens.
|133| SAVAGE
Es stellt sich heraus, dass es eine Savage ist, eine Savage 200, ein äußerst solides, präzises Gewehr, wie Tomo feststellt, eines, das auch von Polizeikräften in den USA eingesetzt wird, ein SWAT-Team- Gewehr , das man nicht oft putzen muss und auf das Verlass ist. Doch davon versteht man nichts, man hat keine Ahnung von Gewehren, auch wenn man offenbar ein Naturtalent ist, und dass man gesagt bekommt, das Zielfernrohr sei auch amerikanisch, tauge was und das Ganze sei von Zorans Bruder, dem Schiffskapitän, aus Kanada mitgebracht geworden, als Geschenk und zum Jagen, nimmt man mit einem Kopfnicken entgegen und weiß sonst nichts zu sagen.
Nun, dann sei man ja ausgerüstet, sagt einem Marko und man glaubt ihm, fühlt sich in der Uniform und mit dem Gewehr und der Pistole, für die Nada einem ein Halfter gibt, wie ein richtiger Soldat. Patronengürtel bekommt man auch und Munition, hundert Schuss Winchester 308 Gewehrmunition, was eine äußerst durchschlagsstarke Munition sei, und nicht ganz fünfzig Schuss für die Pistole. Man könne froh sein, sagt einem Marina, solange man die nicht brauche, und man denkt sich, dass das wohl so ist.
Boro kommt aus der Küche und stellt eine große Platte mit Spaghetti auf den Tisch. Marko bringt Teller und Besteck, Nada Wein und Gläser, man hilft, die Utensilien auf dem Tisch zu verteilen, reicht sie weiter an seine neuen Freunde und dann wird gegessen, schweigend, mit Weißbrot Sauce aufgetunkt, der Wein auf heimische Art und Weise mit Wasser verdünnt und dann ist man satt und hilft Marina beim Abwasch.
Sie bricht das Schweigen, denn man weiß nicht, was man sagen oder fragen soll, man ist in einer neuen Situation, im Krieg, und steht neben einer äußerst attraktiven, starken Frau in der Küche, ein Tuch zum Abtrocknen des Geschirrs in der Hand, und würde sie |134| doch am liebsten küssen, auf der Stelle, ob es wegen der gefährlichen Situation ist, dem Krieg, der aufgewühlten Seele oder ob man sie unter allen Umständen so umwerfend
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