Drift
schicken oder Marina oder Nada, die sich mit ihren Gewehren auskennen, aber man hat, wenn nicht unbedingt Angst, so doch einen Heidenrespekt vor Marko, und in diesem schummrigen, fahlen Mondlicht noch mehr als sonst: Seine Augen sind tiefschwarz, die Falten in seinem Gesicht sehen aus wie gepflügt, und wie man weiß, hat er die Pistole schnell zur Hand und einem gegen die Stirn gedrückt. »Los«, sagt er und sieht Boro dabei an. »Und passt auf.«
Josko geht voraus, Boro schubst einen, man solle Josko folgen, so dass er das Schlusslicht macht. Man geht vorsichtig und möglichst leise hinter Josko her, denn man hat keine Ahnung, was Marko gesehen zu haben glaubt. Es könnte irgendetwas sein. Sprich, es könnten einem Kugeln entgegengeflogen kommen oder auch nicht, man könnte erschossen werden oder auch nicht. An dieses Entweder-Oder muss man sich erst noch gewöhnen. Aber das ist im Krieg vermutlich so. Es geht bergauf, leicht zunächst, dann immer steiler, und man folgt Josko dicht auf den Fersen, Boros Atem im Nacken, bis Josko sich hinkauert und wartet, dass man selbst und Boro sich hinkauern. Man hat den Waldrand erreicht und das Mondlicht ist ziemlich hell, man kann die Spitze des Hügels geradeaus und die Steinmauer, die am Fuße des Hügels beginnt, gut erkennen. Die Augen folgen der Mauer und man sieht, dass sie bei einem Haus endet, daneben eine große Scheune mit landwirtschaftlichem Gerät davor. Man ist sich nicht sicher, aber man glaubt, einen mit Ästen |137| zugedeckten Jeep zu erkennen. Und wenn da ein Jeep steht, sind die Soldaten, die ihn benutzt haben, nicht weit.
»Wir gehen hier den Waldrand entlang nach unten und robben dann zum Anfang der Steinmauer dort«, sagt Josko und zeigt einem mit ausgestrecktem Finger, welche Route er meint. »Und du robbst hier rauf zum höchsten Punkt des Hügels und deckst uns. Wie Marko schon gesagt hat: Falls uns jemand entdeckt, knall ihn ab.« Er sieht einen durchdringend an, um sicherzugehen, dass man ihn verstanden hat und nicht zögern wird, sollte jemand die Waffe gegen sie richten. »Alles klar«, sagt man krächzend mit von stundenlangem Schweigen trockener Stimme und räuspert sich, um sich klarer und entschlossener zu wiederholen. »Alles klar.« Boro beugt sich zu einem herüber. »Und komm nicht auf die Idee, jemanden abzuknallen, wenn der uns nicht gesehen hat, verstanden?« Man nickt und Josko legt einem die Hand auf die Schulter. »Du schaffst das. Mach dir keine Sorgen. Und jetzt sieh zu, dass du auf den Hügelkamm kommst. Wir passen auf. Wenn du oben bist, gehen wir los und du passt auf. Na los, geh schon.« Man will sich schon zu Boden werfen, als man sich nochmals umdreht und Josko und Boro unsicher anschaut. »Robben oder geduckt laufen?« Boro atmet zischend aus und Josko lächelt einen an. »Ich glaube, Robben ist ohne Deckung sicherer …«
Man hat nie gelernt, wie man richtig robbt, wenn es denn überhaupt eine einzige und nicht verschiedene Arten gibt, richtig zu robben. Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten hält man das Gewehr so vor sich, wie man es aus den Filmen kennt, und benutzt die Ellbogen und schiebt sich mit den Knien und Füßen vorwärts, und tatsächlich: Man kommt gut voran und ist nach vielleicht zwei Minuten über den Kamm. Man dreht sich um und will Josko und Boro schon ein Zeichen geben, da hört man ein Geräusch im Dickicht hinter sich. Der Puls schlägt einem fast die Schädeldecke heraus. Was war das? Wer versteckt sich da? Ist es ein Tier oder ein Tier mit Bart? Verfluchte Scheiße. Man hebt kurz den Kopf, um |138| Josko und Boro ein Zeichen zu geben, sie sollen warten, und geht langsam und geduckt auf die Stelle zu, wo man den Ursprung des Geräusches erkannt zu haben glaubt. Man sieht nichts. Da ist nichts. Gerade als man sich umdreht, um die paar Meter zur Hügelspitze zurückzukriechen, vernimmt man ein deutliches, wenn auch unterdrücktes Husten; ein Mensch! Es ist eindeutig ein Mensch! Man geht auf das Gebüsch zu, und als man den ersten Schritt hinein tut, springt eine Gestalt auf und will davonrennen und instinktiv wirft man sich drauf und fällt gemeinsam zu Boden. »Nicht!«, wimmert die Gestalt, aber da hat man ihr schon die Hand auf den Mund gedrückt und die Pistole unters Kinn. »Pssst, Ruhe!«, zischt man und erkennt, dass es ein kleiner Junge ist, vielleicht etwa zehn oder elf, der da mit angsterfülltem Blick unter einem liegt. Man werde ihm nichts tun, sagt man, aber er müsse still sein.
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