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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal einen so klaren Kopf gehabt hatte wie an diesem Morgen.
    Frau Juric saß bereits in der Küche. Sie hatte Kaffee gekocht und erwartete Martin mit Obst und Gebäck.
    »Guten Morgen!«, sagte er.
    »Guten Morgen, Martin. Haben Sie gut geschlafen?«
    »Mhm«, sagte Martin. »Wie ein Engel. Erstaunlich, wie gut man schläft, wenn man gut gegessen und ein anregendes Gespräch geführt hat. Wirklich, vielen Dank für den gestrigen Abend.«
    Frau Juric lächelte. Martin erinnerte sie an Davor, ihren Sohn. Von dem sie Martin allerdings nicht erzählt hatte. Er war tot, gestorben im Krieg.
    |129| »Geht’s heute nach Skolj?«, fragte sie und schenkte Kaffee ein.
    »Ja«, sagte Martin. »Heute geht’s auf die Insel.«
    Und sofort dachte er an die junge Frau mit den dunklen Augen und an Helena und daran, dass er die eine noch nicht kannte und doch irgendwie in sie verliebt war, und daran, dass er die andere liebte und nicht mehr zu kennen schien. Aber das war in Ordnung. Heute zumindest.
     
    Die Stadt empfing ihn mit legerem Treiben: Waren wurden mit kleinen Lastwagen und auf Holzkarren zum Markt gebracht, Männer und Frauen gingen zur Arbeit, in die Stadt oder mit der Fähre raus zu einer der Inseln, Kinder und Jugendliche schlenderten lachend und scherzend über die Brücke zur Schule – fast zu harmonisch erschien ihm die Szenerie und dazu kam noch die Temperatur, die zu dieser Tageszeit einfach nur angenehm war: Die Sonne schien, aber es war noch nicht so heiß, dass es zur Qual wurde.
    Martin saß auf einem Betonpfeiler, an dem Fischerboote festgezurrt wurden, und sah zunächst zur Wohnung von Frau Juric hinüber, die auf der anderen Seite des Hafens lag, und er sah sie, die alte Dame, wie sie im Fenster lehnte und in seine Richtung blickte. Obwohl er wusste, dass sie ihn aus der Entfernung nicht erkennen konnte, gab er einem Impuls nach und winkte ihr zu. Er versuchte zu erkennen, ob sie zurückwinkte, als die Fähre ins Bild und schnell auf den Quai zukam.
    Zehn Minuten später saß Martin auf dem Aussichtsdeck der Fähre und schaute zu, wie die Autos in deren Bauch dirigiert und Stoßstange an Stoßstange in ihrem Inneren verstaut wurden; es wehte ein leichter Morgenwind, die Sonne war noch zu schwach, um die Thermik voll in Gang zu bringen, aber es würde nicht mehr lange dauern und der Mistral würde, wie jeden Tag, mit vier bis sechs Beaufort durch den Kanal zwischen den Inseln und dem Festland wehen und den Seglern, die jetzt schon, in der Vorsaison, unterwegs waren, einen traumhaften Segeltag schenken.
    |130| Er war zwar aufmerksam, aber er suchte nicht aktiv nach der jungen Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf wollte; es konnte einerseits gut sein, dass sie die Fähre nicht täglich nahm oder dass gestern eine Ausnahme gewesen war, oder dass er sich einfach getäuscht und einen Wunschtraum gesehen hatte. Er schloss die Augen und genoss die Sonne und den jungen Mistral.
     
    Die Hauptmotoren liefen an und die Fähre erzitterte und legte ab, noch während die schwere Rampe hochgezogen wurde, und der Kapitän, ein braungebrannter Mann in seinen Fünfzigern, stand in voller Montur am linken der zwei Seitensteuer: Er betätigte das ohrenbetäubende Horn zwei Mal kurz hintereinander und manövrierte das Schiff routiniert rückwärts und dann aus dem Hafen hinaus.
    Von seinem hohen Sitzplatz aus konnte Martin einen ungewohnten Blick auf die alte Stadt werfen, auf die Autos, die neben der Straße auf der breiten Stadtmauer zwischen Bäumen geparkt waren oder in Richtung Stadtzentrum fuhren. Er sah einen Teil des Marktes und der farbigen, meist rotweiß oder blauweiß gestreiften Planen, die Obst und Gemüse vor direkter Sonneneinstrahlung schützten, er warf einen flüchtigen Blick in Gässchen und hätte schwören können, dass er den Stuhl erkennen konnte, auf dem er ein paar Abende zuvor gesessen und, in schmerzhafte Gedanken versunken, getrunken hatte, im kleinen Gartenrestaurant, das für ihn eine Entdeckung gewesen war und das er Helena so gerne gezeigt hätte.
    Helena. Wie lange noch würde sie ihn quälen? Würde er je wieder ohne Schmerzen an sie denken können? Vermutlich nicht, dachte er. »Aber was denkst du auch«, sagte er zu sich selbst, leise gemurmelt, damit ihn die Frauen nicht hören konnten, die sich auf der Sitzreihe neben ihm niedergelassen hatten; sie waren laut und gut gelaunt, etwas, das Martin im allgemeinen gefiel. Zumindest, solange die

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