Drift
verlässt das Zimmer und Marko hält einen zurück. »Geh dir das Gesicht waschen«, befiehlt er und zeigt auf ein Badezimmer am Ende des Ganges. Man tut, wie einem befohlen, und meidet das Gesicht im Spiegel, man kann und will es nicht sehen. Als man fertig ist, geht man zurück zur Scheune.
|147| Nada hat den Arm um den Kleinen gelegt, der an ihre heile Schulter gelehnt heult, dass es einem das Herz zerreißt, und redet beruhigend auf ihn ein. Drinnen hat Josko bereits den armen Mann losgeschnitten, hinter das Tor und außer Sichtweite des Jungen neben Boro gelegt und hackt gerade mit dem Beil ein Stück Brett aus der Türe des Nebenraumes. »Komm, hilf mir«, sagt er, »wir müssen eine Bahre für Nada machen.« Man tritt neben ihn und reißt an dem Brett, während er mit dem Beil draufdrischt. Nach ein paar Minuten hat man eine akzeptable Tragbahre hergestellt und geht damit nach draußen, zu Nada, Marko und dem Jungen. »Mach das Licht aus und schließ das Tor«, sagt Josko und man tut es – das letzte, was Tochter und Frau jetzt noch brauchen, ist der Anblick des verstümmelten Vaters und Ehemannes. Man hilft Josko, Nada auf die Bare zu legen und festzubinden, während Marko mit dem Jungen spricht.
»Du darfst jetzt nicht an deinen Vater denken, Ivan«, sagt er in eindringlichem Ton zu dem Kleinen, »das kannst du später machen. Aber jetzt«, er nimmt das Kinn des Jungen und zwingt ihn, ihm in die Augen zu sehen, »jetzt brauchen dich deine Mutter und deine Schwester, verstehst du? Du bist jetzt der Mann im Haus und du musst dich um sie kümmern. Ich weiß, wie viel das verlangt ist, aber wenn deine Mutter und deine Schwester aus dem Haus kommen, will ich, dass du kein Wort darüber sagst, was mit deinem Vater geschehen ist, sondern sie an den Händen nimmst und mir nachgehst. Kannst du das machen?« Der Junge sieht ihn an, als spräche ein Geist zu ihm. Marko packt den Kleinen an den Schultern und zieht ihn näher zu sich heran. »Kannst du das bitte machen, Ivan?«, sagt er etwas schärfer. »Kannst du dich um deine Mutter und deine Schwester kümmern? Sie brauchen jetzt deine Hilfe!« Als würde er langsam aus einem Traum erwachen, beginnt der Junge zu nicken. »Lass es mich hören. Versprich mir, dass du dich um die beiden kümmern wirst.« Ivan starrt ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Bitte, Ivan, versprich es mir.« Mit zitternder |148| Stimme sagt der Kleine brav und wie von ihm verlangt: »Ich verspreche es.« Dieses Mal allerdings ohne Indianerehrenwort.
»Nimm du die vordere Seite«, sagt Josko und meint die leichtere Seite der Trage, wo Nadas Beine liegen. Man sieht ihn an, aber alles andere wäre dumm: Er ist fast zwei Köpfe größer als man selbst und ohne jeden Zweifel um einiges stärker. Also packt man die Bahre und geht Marko und dem Jungen hinterher zum Eingang des Hauses, wo man Nada absetzt. »Wie geht es ihr?«, fragt man Josko. »Schlecht. Wenn sie zu sich kommt, dann murmelt sie nur, wir sollen sie liegenlassen. Aber zwei sind für heute genug, Nada wird mir nicht unter den Händen wegsterben, das verspreche
ich
dir!« Man nickt und sieht von Nadas ohnmächtigem Körper auf, als man Schritte durchs Wohnzimmer auf die offene Haustür zukommen hört. Alle vier, Josko, Marko, der Junge und man selbst, schauen zur Türe, gespannt, in welchem Zustand Mutter und Tochter erscheinen werden. Umso geschockter ist man, als man statt zweier Körper, aus denen sich die Seelen zurückgezogen haben, um die Erniedrigung und den Schmerz überhaupt zu überleben, zwei lebendige Menschen vor sich stehen sieht, in Jeans, Pullovern und Jacken, und die Mutter lächelnd auf die Knie geht, um ihren Sohn, der mit einem Aufschrei auf sie zurennt, mit ausgebreiteten Armen zu empfangen und an sich zu drücken. Ivan weint, aber lautlos, und als er seine große Schwester mit den aufgeschlagenen Lippen und den geschwollenen Augen sieht, streckt er die Hand aus und drückt die ihrige, so fest er kann. »Ich werde auf euch aufpassen«, sagt er und man merkt, wie es einem die Luftröhre zuschnürt.
»Kommt, wir müssen los«, sagt Marko, und man ist sich sicher, auch in seiner Stimme ein Zittern gehört zu haben. Er dreht sich um und geht los. »Schnell!«, sagt er, den Blick auf den Waldrand oben am Hügel gerichtet. »Sie sind bestimmt schon auf dem Weg hierher.«
|149| RAUSWURF
Als Martin das Diktiergerät ausschaltete, war es schon weit nach fünf Uhr morgens und Inga-Ines-Ingrid-Wieauchimmer
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