Drift
Blut und er atmet kaum, sein Oberkörper ist von Kugeln wie zersiebt. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Zum ganzen Adrenalin der vergangenen Viertelstunde kommt Wut. Eine mörderische Wut. Eine ungekannte, gewalttätige Wut. Man tritt an Josko heran, sagt: »Verbandszeug!« Man befiehlt es ihm geradezu, packt es, als er es einem verwundert hinhält, man bringt es Marko, der neben Nada kniet, geht zurück in die Scheune, lehnt das Gewehr ans Tor, packt den Metzger, der bestimmt hundert Kilo wiegt, als wäre er eine Strohpuppe, und wirft ihn auf den Tisch, der zwischen dem Gefolterten und Josko |145| und Boro steht, packt sich das kurze Beil, das neben dem Tisch auf einer Ablage liegt, und beginnt, dem um Gnade flehenden Mörder mit der Rückseite des Beils Zähne einzuschlagen, und kommt erst wieder zu sich, als man ausholt, um ihm mit dem Beil den Schädel zu spalten, und ein Schuss fällt; mitten in der Bewegung hält man inne und sieht Rauch aus einer Pistole aufsteigen, Markos Pistole, mit der er dem Mann eine Kugel in den Kopf verpasst hat.
»Genug«, sagt er nur, sieht einen dabei kühl an und steckt die Pistole wieder ein. Man lässt das Beil langsam sinken, taumelt zurück und lässt sich, als man an die Wand des kleinen Raumes gelangt, langsam nach unten gleiten; was da soeben getan worden ist, kann man unmöglich selbst getan haben, und man glaubt es auch fast, bis man sich selbst wie aus einer Perspektive von oben dabei beobachten kann, in Zeitlupe noch dazu, und dann übergibt man sich, kotzt alles aus sich raus, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, kotzt, bis nichts mehr da ist und man die Stimme von Marko hört, die über einen gebückt zu einem sagt: »Komm, beruhige dich.«
Wie durch einen Nebel kommt die Wirklichkeit zu einem zurück und erfasst einen, und was man sieht, ist pures Gemetzel. Hätte man noch was im Magen, man würde sich noch einmal übergeben, aber da ist nichts mehr übrig, auch keine Kraft, alleine aufzustehen; Marko hilft einem auf die schwachen Beine. »Geht’s?« Man nickt. »Du bist bleich.« Man nickt erneut. Sprechen ist so weit weg, als hätte man es nie gekonnt. Man taumelt, will zu Josko, Boro kann man aus diesem Winkel nicht sehen, und als man am kugeldurchlöcherten Holztor vorbei ist, sieht man, wie Josko, die Stirn gegen Boros Schulter gedrückt, lautlos weint: Boro ist tot. Marko stellt sich neben einen und sagt mit zittriger Stimme zu Josko und zu sich selbst: »Wir können ihn nicht mitnehmen. Und Tomo auch nicht. Wir müssen uns um Nada und die zwei Frauen und den Jungen kümmern.« Josko nickt, ohne aufzuschauen.
»Komm«, sagt Marko, und man folgt ihm zum Haus. Nada hat er draußen gegen die Scheune gelehnt. Sie starrt geradeaus. Man |146| geht mit Marko zum Haus, als man die helle, sich überschlagende Stimme des Jungen hört, der plötzlich aus der Dunkelheit auftaucht und auf das offene Scheunentor zurennend ruft: »Vater! Vater!« Man will zurück und ihn aufhalten, aber da kommt schon Josko aus der Scheune gerannt, fängt ihn ab und trägt den um sich schlagenden, verzweifelt schreienden Jungen weg vom Anblick seines verstümmelten Vaters, weg vom Trauma, das er weder in diesem noch in den folgenden zehn Leben verarbeiten wird.
»Lass«, sagt Marko, »wir müssen uns um die Frauen kümmern.«
Im oberen Stockwerk des Hauses liegt Tomo im Gang. Man sieht ihn einen Augenblick lang an, bis man das Wimmern aus dem Zimmer hört, in dem der Cetnik liegt, den man durchs Fenster erschossen hat. Man geht hinein und sieht zwei grün und blau geschlagene, mit Decken verhüllte Frauengestalten neben dem Bett sitzen. Marina kniet neben der jüngeren, der Tochter, und streicht ihr übers Haar. Sie wimmert mechanisch, der Blick tot, abwesend, genauso wie der ihrer Mutter, die jedoch schweigt und auf einen so wirkt, als würde sie nie wieder ein Wort über die Lippen bringen. Marko kauert sich neben Marina und sagt leise: »Wir müssen los. Zieh ihnen was an und komm nach unten. Aber beeil dich. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er ist schon aufgestanden, als er nochmals in die Knie geht und zu ihr sagt: »Boro ist auch tot. Und Nada muss dringend ins Spital. Also bitte beeil dich.« Zum ersten Mal, seit man mit Marko das Zimmer betreten hat, blickt Marina auf. Sie sieht einen an, erschrocken ob all des Blutes, das man im Gesicht und auf den Händen hat, dann gleitet ihr Blick zu Marko und sie sagt ruhig und gefasst: »In zwei Minuten sind wir unten.«
Man
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