Drift
Gefühl dem Kleinen gegenüber schon wieder weg und ihre Gedanken sind bei der Frau und dem Mädchen und den Greueln, die ihnen angetan werden, jetzt, in diesem Moment, während sie hier oben auf dem Hügel sitzen und darauf warten, dass Marko den Schlachtplan durchgibt.
»Laut dem Jungen sind es etwa zwölf Mann. Vielleicht auch mehr. Ein paar sollen in der Scheune sein, der größte Teil im Haus. Das Haus hat zwei Eingänge, einen vorn und einen hinten in der Küche. Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, ins Haus zu kommen, nämlich durch den Keller. Und dort gehen wir rein, das heißt, Josko, Tomo, Marina und ich. Nada und Boro gehen zur Scheune. Und du, du knallst alles ab, was aus dem Haus oder der Scheune kommt. Irgendwo muss eine Wache stehen. Die übernehme ich. Ihr wartet, bis ich euch das Zeichen gebe.« – »Und wenn keiner rauskommt?«, fragt man und will wissen, ob man nicht auch mit runter soll. »Sie werden rauskommen, mach dir keine Gedanken, dafür werden wir schon sorgen.«
|141| Die Hände schwitzen, während man versucht, das Gewehr ruhig zu halten. Man verfolgt die Gruppe, wie sie sich hinter der Steinmauer anschleicht, und richtet das Zielfernrohr wieder auf Scheune und Haus. Da sieht man ihn plötzlich, den Wachtposten, die Glut der Zigarette, die er raucht. Der Mann steht an die Scheune gelehnt, kaum sichtbar im Dunkeln. Marko, denkt man, er wird ihm direkt in die Arme laufen! Aber man hat kein Funkgerät, um ihn zu warnen, und schießen darf man nicht, will man sie nicht alle verraten. Panik, ein Herzschlag, der das Fadenkreuz des Zielfernrohrs tanzen lässt – Ruhe bewahren, den Posten ins Visier nehmen und das Herz beruhigen, ermahnt man sich. Es weht kein Windchen, das Fernrohr ist auf hundertfünfzig Meter eingestellt, und obwohl es etwas mehr als zweihundert Meter sind, ist man sich sicher, dass man den Mann mit dem ersten Schuss erwischen wird, man zielt auf seinen Kopf und trifft ihn in die Brust.
Die Gruppe ist fast am Ende der Mauer angekommen und kauert sich hin. Marko löst sich als einziger und rennt los: Er verschwindet rechts hinter der Scheune und man denkt sich, Gott sei Dank, so kann er ihn vielleicht von hinten überraschen, und tatsächlich fällt die Glut einige Momente später zu Boden, ohne dass man hätte erkennen können, was Marko mit dem Wachtposten angestellt hat. Aber man tippt auf ein Messer, und dass Marko ihm die Kehle durchgeschnitten hat. Er rennt gebückt zur Hauswand und duckt sich unter ein Fenster. Man richtet das Fernrohr auf das Ende der Steinmauer und drei Gestalten rennen los und verschwinden hinter der Scheune. Kurz darauf kauern sie neben Marko. Dann tauchen sie im Dunkel unter und man richtet das Gewehr wieder auf die Scheune, vor der jetzt Nada und Boro stehen, an die Holzbretter neben der Tür gelehnt. Man wird immer nervöser, gleich wird hier die Hölle los sein, denkt man und Schweiß rinnt einem übers Gesicht, man zwinkert, nimmt aber das rechte Auge nicht vom Zielfernrohr, bis das Bild zu verschwimmen beginnt und man sich schnell mit der Linken über die Augen fährt. Und in just dem Moment |142| hört man aus dem Haus die kurz aufeinander folgenden Explosionen von zwei Granaten und Maschinengewehrfeuer. Man drückt das Auge wieder ans Zielfernrohr und sieht, wie Boro das Scheunentor aufstößt und Nada, die hinter ihm kniet, Schüsse abgibt. Man will schon das Zielfernrohr auf das Haus richten, als man in der Scheune etwas sieht, das einem zunächst nicht in den Kopf will, weil die Scheußlichkeit und Grausamkeit des Bildes nichts ist, was der Kopf einfach so akzeptiert: Ein Mann, vermutlich der Vater des Jungen, hängt, an den gespreizten Beinen aufgehängt, kopfüber an einem Balken, vor ihm ein Cetnik mit einem Messer. Die Genitalien des Mannes fehlen, seine Beine, sein Bauch und seine Brust sind blutverschmiert – Folter der brutalsten, schlimmsten Art. Und der Foltermeister, der Metzger, fällt vornüber, von einem Bauchschuss aus Nadas Gewehr getroffen. Bevor man das Fadenkreuz auf das Haus richtet, sieht man gerade noch, wie Boro getroffen in die Knie sinkt, aber da drückt man selber schon ab, denn aus dem Haus kommen die ersten Männer gerannt, teils humpelnd, teils blind in die Dunkelheit schießend; man atmet aus und drückt ab, sieht, wie Blut spritzt und der jeweils Getroffene zu Boden geht. Man lädt durch und drückt wieder und wieder ab und die vier Mann, die vor dem Haus waren, werden niemandem mehr
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