Drift
Fall! Halt den Kopf unten und versuch, die Beine gegen die Bank zu drücken. Aber lass auf keinen Fall los!«
Eine Welle schwappte über sie und Martin flehte zu Gott, dass Helena den Kopf nicht hob und keines der Seile ihr Gesicht zerschnitt; aber da war sie, stemmte sich gegen die Bank und hielt sich mit beiden Händen am Griff fest.
»Okay!«, schrie sie gegen den Wind, »was jetzt?«
»Nimm die Großschot, das rote Seil, gleich da unten!«
Die Schot lag im Meer, sie konnte sie nicht erreichen, ohne loszulassen. Sie versuchte es mit einem Fuß, drohte aber, dabei über Bord zu gehen. Scheiße.
»Helena!«
»Was?«
Martin rutschte nach vorn, so gut es ging, rutschte ab, hing mit der Rechten am Stahlseil der Reling und versuchte, die Linke nicht vom Steuer zu nehmen und das Schiff irgendwie zu kontrollieren, was völlig absurd war, weil von Kontrolle keine Rede sein konnte.
Helena wollte ihm helfen, aber er schrie sie an: »Bleib, wo du bist!«
Sie durfte nicht loslassen, auf keinen Fall, sie hing an keinem Sicherheitsgurt. Martin wickelte die Safety-Line um seinen rechten Unterarm und stellte den Autopiloten ein.
»Gib mir deine Hand, deine rechte Hand!«
|182| Helena wusste, was er vorhatte, und stellte den rechten Fuß etwas weiter nach vorn, rutschte ein, zwei Mal auf den Seilen aus, bevor sie ihn richtig absetzen konnte, dann reichte sie ihm ihre Hand. Martin packte ihr Handgelenk und sie seines, und Martin drückte zu, so fest er konnte: Nichts wird sie mir aus der Hand reißen, dachte er, solange ihr Arm an ihrem Körper dran ist, bleibt Helena bei mir, so viel ist klar, auch wenn ich ihre Knochen zermalme und meine Muskeln reißen; ich werde sie nicht loslassen.
»Jetzt, versuch’s jetzt!«
Schnell und kontrolliert glitt sie nach unten, griff nach dem Seil und erwischte es beim ersten Versuch, ließ es auch nicht los, als ihre Beine von der Bank gespült wurden und sie an Martins Arm baumelnd über dem kochenden Meer hing; sie biss ins Seil und zog sich an Martins Arm und am Griff neben dem Kabineneingang hoch, bis sie wieder im Cockpit saß.
»Und jetzt zieh, was du kannst!«, schrie Martin.
Und sie tat es. Er konnte sehen, wie viel Kraft es sie kostete – aber auch, wie selbstverständlich es für sie war, dass das jetzt getan werden musste, und zwar auf Biegen und Brechen und so schnell wie nur möglich; Schmerzen zählten nicht. Dann der Punkt, an dem ihre Kraft nicht ausreichte.
»Was jetzt?«, schrie sie, »die Klemme ist futsch, ich kann’s nicht mal einhängen!«
»Ich komme!«, schrie er zurück und verbog sich, dass seine Rippen die Hüfte berührten; er hängte sich mit dem linken Fuß ins Steuer und warf seinen Oberkörper nach vorn, mit der Rechten an der Safety-Line, mit der Linken nach dem Seil greifend, das Helena ihm mit letzter Kraft entgegenhielt; er bekam es zu fassen, warf sich zurück, stellte den Autopiloten für einen Augenblick ein und zog mit aller Kraft an der Schot, bis nichts mehr ging – aber der Baum war unter Kontrolle. Er machte zwei Schleifen um die Winch, um die Schot zu fixieren. Jetzt die Genova; Martin bestellte Helena ans Ruder und ruinierte seine Hände vollends, bis er die wild um |183| sich schlagende Genova endlich mit allerletzter Kraft eingerollt hatte.
Und kaum hatten sie die Segel geborgen, Stille. Ein Blick nach oben, blauer Himmel. Rundherum alles grau. Martin dämmerte es. Sein Großvater hatte ihm davon erzählt. Selten, aber kein Seemannsgarn: eine Pijavica. Fuck!
»Helena! Helena, wir sind im Auge eines Minitornados!«, schrie Martin.
»Mini?«, antwortete Helena verzweifelt.
»Siehst du Land, irgendwas, eine Insel?«, fragte Martin.
Helena sah sich um und schüttelte den Kopf.
Und schon ging es wieder los, schlimmer noch als zuvor.
Martin sah auf den Kompass und steuerte Westen an – etwas anderes blieb ihm nicht übrig.
Zwei, vielleicht drei, vier Minuten später war der Spuk vorbei und sie konnten sehen, wie ein grauer Zylinder, der vom Meeresspiegel bis an die Wolkendecke reichte, auf die Insel Brac zusteuerte. Eine Pijavica. Unglaublich.
Martin öffnete lächelnd die Augen, hob den Arm und sah auf die Uhr; Zeit, mit den Drogen weiterzumachen. Es blieben ihm noch zweieinhalb Stunden, wollte er sich an den Plan halten. Und das wollte er jetzt noch mehr als zuvor: Die Gedanken an vergangenes Glück führten ihm allzu deutlich vor Augen, dass es kein Leben ohne sie gab. Aber er fühlte keine Bitterkeit. Er erinnerte sich
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