Drift
an Helena und ihr gemeinsames Glück wie an ein früheres Leben. Seine Helena. Keine andere wäre so ruhig und konzentriert geblieben. Er war stolz auf sie. Und er vermisste sie über jedes erträgliche Maß. Er liebte sie. Sah sie über die scharfen Felsen von Lastovo auf sich zukommen, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend und ihre schmale Taille hin und her bewegend wie eine Fee. Verdammte Scheiße.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen, schloss sie und sah den |184| Lavahimmel, der sich ihnen an jenem Abend nach dem Tornado geboten hatte; unbeschreibliche Landschaften, wie von einer anderen Welt, leuchteten über ihnen am Himmel in der untergehenden Sonne, und er konnte sie förmlich spüren, die letzten wärmenden Strahlen und die gegenseitigen Berührungen, wie sie aneinandergekuschelt dasaßen und Wein tranken. Sicher. Einer des anderen.
Erneut Tränen, und Martin beschloss, dass es genug der Sentimentalität war. Er ging zum Tisch und widmete sich den Drogen. Linie, dann Rauchen. Rauchen, dann Linie. Er hatte noch etwas vor, und das verlangte ein Mindestmaß an Willen und Entschlossenheit. Aber egal, wie sehr er sich bemühte, die Sentimentalität zu unterdrücken, er schaffte es nicht, ihre Augen, ihr Lächeln und ihren Körper aus dem Kopf zu verbannen. Je mehr er es versuchte, desto hartnäckiger kamen Bilder aus vergangenen Tagen hochgeschossen und ergossen sich über ihn, begruben ihn unter sich, so dass er es kaum schaffte, den Kopf genügend hochzuheben, um das Röhrchen in den Heroin-Kokain-Cocktail zu halten und die Drogen zu sich zu nehmen.
Er strengte sich an, nahm eine große Linie und ließ die Stirn auf die Glasplatte sinken. »Sollen sie kommen, die Erinnerungen«, dachte er jetzt, »ein letztes Mal noch.« Aber statt schöner Bilder und dem Lächeln seiner großen Liebe überfielen ihn wüste Gedanken, ein Gewirr von Vorwürfen und Selbsthass, Stimmen, die er seit geraumer Zeit nicht mehr gehört hatte, die aber offenbar nicht vorhatten, ihn einfach so aus dieser Welt gehen zu lassen – womöglich noch mit einem Lächeln im Gesicht; nein, das hatte er nicht verdient, nie im Leben. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Hände über dem Kopf, als könnte ihn das vor dem Sturm in seinem Hirn beschützen – was jedoch erst die ausgehöhlte Kugel schaffen würde. Bis dahin hatte er allerdings noch Zeit und jede Menge Koks, Heroin, Stimmen, Kugeln und Granaten, die in seinem Kopf wüteten.
Helena? Julien? Marina? Anybody there?
|185| AUFTRAG
Man hört Stimmen, die man nicht kennt, glaubt, sie rufen einen, merkt, dass man wach ist, und öffnet die Augen. Zuerst unsicher darüber, wo man sich befindet, erkennt man nach und nach das Zimmer. Ein Blick hinüber zur anderen Matratze, aber Josko liegt nicht mehr da. Man erhebt sich langsam und stöhnt auf; man hat den Oberarm vergessen, beziehungsweise die Wunde. Man greift in die Hosentasche, holt eine Tablette raus und schluckt sie runter, setzt sich auf und zieht die Stiefel an. Die unbekannten Stimmen im Wohnzimmer sagen »Prost!« und Gläser werden auf den Holztisch geknallt und dann gegeneinander. »Prost!«, hört man Josko und Marina. Mit einem lauten Seufzen erhebt man sich aus dem Bett und geht zur Tür, wo man sich zuerst die Hand vor die Augen hält, geblendet vom Licht der nackten Glühbirne über dem Esstisch. »Komm, setz dich«, sagt Josko und man nimmt die Hand runter und sieht sich die Gesichter derer an, die am Tisch sitzen: Josko am Kopf des Tisches, Marina den zwei Soldaten gegenüber, die man noch nicht kennt; sie zieht den Stuhl neben sich zurück und macht eine Kopfbewegung, die heißen soll: »Los, setz dich zu mir.«
Die beiden Soldaten sehen einen, so weit eine solche Kombination überhaupt möglich ist, halb kritisch, halb freundlich an. Vielleicht staunen sie auch nur, denkt man, während man den Tisch umrundet und auf den Stuhl zugeht, den Marina einladend mit der Hand tätschelt. Man setzt sich, und der Soldat, der einem gegenübersitzt, nimmt ein kleines Glas, öffnet eine halbvolle Flasche mit klarer Flüssigkeit drin und schenkt das Glas voll bis an den Rand. »Das sind Darko und Antun«, sagt Marina. Die beiden nicken und strecken einem die Hand entgegen. Man nimmt die eine, dann die andere und nickt ihnen ebenfalls zu. »Da, trink«, sagt Darko, der vis-à-vis, und schiebt einem das Glas hin. Man will »Danke!« sagen, aber die Stimme versagt und man krächzt wie ein Rabe.
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