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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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und steuerte mit einer Hand – das Glas Wein in der anderen. Er erklärte Helena, die ihm aufmerksam zuhörte, wie das Schiff auf Halbwindkurs reagiert. Sie würde schon bald ganz gut Bescheid wissen, dessen war Martin sich sicher.
    »Noch ein Glas?«, fragte sie und Martin nickte und hielt ihr sein fast leeres Glas wortlos lächelnd hin.
    »Captain Sir, meinte ich natürlich«, verbesserte sich Helena.
    »Lassen wir die Formalitäten, meine Liebste: Captain genügt …«
    Sie segelten bis kurz vor Sonnenuntergang, und es war, als hätten Sonne und Wind sich abgesprochen, denn kaum berührte der rotglühende Feuerball den Horizont, hörte es komplett auf zu winden. Sie suchten sich im letzten Abendrot eine Ankerstelle aus, eine schöne, verlassene Bucht, in der außer ihrem Schiff nur noch ein weiteres lag, ein polnisches, wie sich bei genauerem Hinsehen herausstellte. Sie gingen vor Anker, entledigten sich ihrer Klamotten und nahmen als allererstes ein kühlendes Bad – mit Goldhund natürlich.
    |175| Es war erstaunlich einfach, ihn wieder an Bord zu kriegen: Der Golden Retriever suchte mit den Hinterläufen nach der Badeleiter, während er die Vorderpfoten auf die Badeinsel hielt, und mit einem Ruck von oben oder einem Stupser von unten, aus dem Meer, war er schon auf der Insel und schüttelte sich und machte alles im Umkreis von zwei Metern nass; Helena hatte recht gehabt – der Hund adaptierte sich hervorragend.
    Sie kochten Spaghetti Bolognese, tranken eine Flasche Rotwein und kuschelten und knutschten, bis sich der Sternenhimmel in seiner vollen Pracht über die Melissa und die Bucht spannte. »Ist das nicht ein Traum?«, fragte Martin, und Helena drückte sich noch enger an ihn heran und seufzte. Das war die schönste Antwort, die sie ihm geben konnte.
    So ging das gut neun Tage lang und jeder nächste Tag war schöner als der vorherige. Bis der Tag kam, an dem das Meer versuchte, sie umzubringen.
    Es regnete und sie waren seit knapp einer Stunde unterwegs, Wind Nord-Nordwest, vier Beaufort. Martin saß allein im Regenoverall am Steuer; er hatte Helena überredet, unten zu bleiben, weil es reichte, wenn einer nass würde.
    Das Radio gab Sturmwarnung, am Vorabend noch eine eventuelle, am Morgen dann eine definitive: Nevera, so hieß die Sorte Sturm, die prognostiziert war und von Italien nach Dalmatien herüberkam – keine schöne Sache im allgemeinen, und erst recht nicht mit einem dreißig Fuß kurzen Schiffchen auf offenem Meer; die Segel mussten auf Sturmgröße gerefft werden, also stellte Martin den Autopiloten auf Kurs und ging auf dem glitschigen Deck zum Baum. Mit einiger Anstrengung brachte er das Segel auf ein Drittel runter, befestigte es, ohne vom Flattern des Tuchs und von den ruckartigen Schwenkern des vom Autopiloten immer mit etwas Verspätung gesteuerten Schiffes über Bord geworfen zu werden.
    Die Melissa verlor durch das Reffen zwar an Geschwindigkeit, aber Martin war jetzt auf der sicheren Seite; eine Nevera konnte innerhalb |176| von Minuten kommen – damit war nicht zu spaßen. Und was sich am Horizont zusammenbraute, versprach ziemlich ungemütlich zu werden.
    Wenn er noch ein Bier trinken wollte, musste er es jetzt tun; später konnte er es vergessen.
    »Helena, Liebes«, rief er durch die geöffnete Luke nach unten, »bitte, sei ein Schatz und gib mir ein Bier hoch, please.«
    Er rechnete mit einer bissigen Bemerkung, doch sie drückte es ihm schon ein paar Sekunden später kommentarlos und lächelnd in die Hand.
    »Und, wie sieht’s aus?«, fragte sie, mit zugekniffenen Augen kritisch den grauen Himmel betrachtend.
    Martin sagte ihr wahrheitsgemäß, dass es rauh werden könnte, jedoch kein Grund zur Sorge bestand. Und Helena nahm es gelassen; sie hatte in den letzten Tagen gesehen, dass er mit dem Schiff umzugehen wusste und dass sie sich sicher fühlen konnte.
    »Das machst du schon«, sagte sie und warf ihm einen Luftkuss zu.
    Ein Kuss zurück, ein Lächeln, und Helena schloss die Luke, während Martin es sich mit dem kalten Bier in der Ecke hinter dem Steuer gemütlich machte. Ein seltsames Gefühl, im warmen Regen zu sitzen, trocken bis auf die Spritzer im Gesicht und das nasse Haar, morgens ohne schlechtes Gewissen Bier zu trinken und ein Segelschiff in einen Sturm zu navigieren. Ein seltsam gutes Gefühl, fand er.
    Er nahm einen Schluck, stellte die Dose in die Halterung und nahm das Ruder. Mit ausgeschaltetem Autopilot segelte er rund eine Stunde auf die nächstgelegene

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