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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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kaum öffnen konnte; sein Gesicht brannte und im Kopf schrie es, er solle das Hauptsegel lösen, aber er kam nicht an das Seil ran, und als er es endlich festhalten konnte, nützte alle Kraft nichts: Das Meer kochte und schien gleichzeitig vom Himmel zu fallen; es drückte das Segel mit einer Gewalt nach unten, dass die Mastspitze schon bald die Wellen berühren würde: Er musste mit dem Fuß zutreten, bis die Klemme in Stücke flog und die Großschot sich löste.
    Das Schiff stellte sich um ein paar Grad auf und schien Martin im Moment unsinkbar; wie konnte es das nur aushalten … Aber dann löste sich das Groß von der Wasseroberfläche und der Baum begann, hin und her zu schlagen, dass Martin um den Mast fürchtete; er hielt den Kopf tief und hechtete zur Genovaschot; lösen oder zuerst den Pilot abstellen? Die Frage beantwortete sich von selbst, denn die wenigen gewonnenen Grad gingen sofort wieder verloren, als das Ungetüm, das über ihnen tobte, noch einen Zacken gewalttätiger wurde und mit aller Macht versuchte, sie zu versenken; Martin riss die Schot aus der Winch, löste die Genova, langsam kam es hoch, entleerte sich und erlaubte es der Melissa, sich Grad für Grad aufzurichten; Martin fiel auf die Knie, um den Knopf, der den Motor anstellt, sicher unterhalb des tödlichen Baums zu erreichen, der über ihm hin und her pfiff; das Wummern der Zylinder war eine Wonne. Er wollte schon den Vorwärtsgang einlegen, als ihm die Bremsleinen in den Sinn kamen, die komplett über Bord gegangen waren; er musste sie einholen, sonst könnten sie sich in der Schraube verfangen, und er riss sich die Hände blutig dabei, aber dann konnte er den Gang einwerfen und gab Vollgas. Er hörte den Motor aufheulen, schaltete den Autopiloten aus und drehte den Bug in Richtung Italien, in Richtung offenes Meer. Aber: Nichts geschah! Egal, wohin Martin den Bug richtete, die Schräglage wurde nicht weniger, |180| obwohl die Segel aus dem Wasser waren; was da an Tuch flatterte, war offenbar immer noch genug, dass der brutale Wind sie nicht aus seinen Klauen ließ; in voller Schräglage machte die Melissa zwar Fahrt, aber wenig, und wohin, konnte Martin beim bestem Willen nicht sagen: Alles um ihn herum war weiß und der Lärm fürchterlich; das Meer brodelte und der Regen füllte das Cockpit mit mehr und mehr Wasser. Was um Himmels willen war hier los?
    Helena, dachte er und schrie gegen die Natur an, und plötzlich öffnete sich die Luke um einen Spalt und Helena starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Martin konnte sich nur vorstellen, was für ein Bild er mitten in diesem Horror abgeben musste: Eine verzweifelt am Steuer reißende Gestalt, die vergebens versuchte, ihr durch das Getöse der Naturgewalten etwas zuzurufen. Umso überraschter war er, als seine Stimme ruhig und sachlich klang und ihm die Worte verständlich über die Lippen kamen und Helena zu seiner größten Verwunderung zu erreichen schienen.
    »Helena«, sagte er, klar und unaufgeregt, »ich brauche deine Hilfe!«
    Er hätte nicht beschreiben können, wie und was er fühlte – Adrenalin und Stammhirn hatten die Kontrolle übernommen –, als Helena ein paar Sekunden später im Overall im Cockpit kauerte. Liebe? Zu wenig. Liebe und Dankbarkeit, dass sie am Leben war und es aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben würde. Er sah die Konzentration in ihren Augen und unterdrückte den Drang, sie zu küssen, als sie sich zu ihm bückte, um ihn besser verstehen zu können.
    »Helena, hör gut zu und tu genau, was ich dir sage, es darf uns jetzt kein Fehler passieren!«
    Sie nickte, wurde hin und her gerissen, stieß sich am Tisch, sagte, sie sehe nichts, fragte gegen das Tosen anschreiend, was tun, »sag es mir«, und er sagte, dass sie jetzt nicht improvisieren dürfe, sondern ganz genau das tun müsse, was er ihr sage, und dass er ihr zuerst sagen würde, was er grundsätzlich von ihr wolle, und dann, was genau zu tun sei. Ob das klar sei? Sie nickte. Ob sie ihn gehört hatte, |181| konnte er nicht sagen, aber nach ihrem Blick zu urteilen schien sie instinktiv begriffen zu haben, was er von ihr wollte; aus ihren Augen sprach kühle Entschlossenheit.
    Als erstes mussten sie den Baum stoppen, bevor er alles in Stücke riss.
    »Wir müssen den Baum stoppen!«, schrie er.
    Sie sah hoch, nickte.
    »Gut. Linke Hand an den Griff neben dem Kabineneingang.«
    Helena tat genau das, nichts mehr. Gut so, dachte er, gut so.
    »Okay, du darfst nicht loslassen, auf keinen

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