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Drift

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Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Insel zu: Korcula, die Insel, auf der sein Großvater geboren worden war. Das Bier war schon seit einer Weile leer, aber die dunklen Wolken und der verstärkte Wind machten ihn nüchtern genug, um auf ein zweites zu verzichten. Die Wellen erreichten mittlerweile eine Höhe von zwei, drei Metern, noch nicht sehr steil, aber ihre Schaumkronen begannen langsam zu verwehen, was hieß, dass der Wind sich auf sechs Beaufort zubewegte. |177| Und jeder Blick nach hinten ließ Martin wacher werden: Die Nevera kam, daran bestand kein Zweifel. Aber er war auf sie vorbereitet. Hauptsegel auf Minimum, Genova bereit, jederzeit gerefft zu werden. Und der Motor war zuverlässig und sprang jedes Mal, wenn er den Knopf betätigte, ohne Murren an. Viel konnte ihnen jetzt nicht passieren, nicht auf Halbwindkurs. Martin hatte sogar daran gedacht, Leinen vorzubereiten, die er notfalls übers Heck werfen und mit ihrer Bremswirkung das Schiff so stabilisieren konnte, dass es ihn nicht auf einer großen Welle querstellte und sie Gefahr liefen, zu kentern.
    Die einzige Gefahr, dachte er plötzlich, war, dass er über Bord ging. Er aktivierte den Autopiloten, ging zur Luke und öffnete sie.
    »Helena!«, rief er nach unten.
    »Ja?«
    »Liebes, du erinnerst dich doch noch an die Sicherheitsgurte, direkt unter dem Bett vorne links?«
    Helenas Stimme wechselte die Farbe von schläfrig zu hellwach.
    »Ja, was ist mit denen?«
    »Gib mir doch bitte einen von denen rauf, sei so lieb!«
    Zwanzig Sekunden später stand sie auf der Treppe und gab Martin die Nylongurte in die Hand. Sie musterte ihn und warf einen Blick aufs Meer, wobei sie sich gut festhalten musste.
    »Alles in Ordnung?«
    »Reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er.
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Nein, alles paletti.« Er wolle den Safety-Harness nur mal ausprobieren, das sei alles, einfach mal sehen, wie dieses Modell funktioniere – und schaden tue es ohnehin nicht, wenn man sich im Sturm festmache.
    Ein bisschen Sorge war ihr jetzt doch anzuhören.
    »Bist du sicher, dass ich dir nicht helfen kann?«
    »Absolut sicher. Glaub mir, wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich dich augenblicklich rufen.«
    |178| Sie drückten einander einen Kuss auf den Mund und Martin vergaß nicht, sie darum zu bitten, ihm noch ein Bier raufzureichen, bevor sie die Luke schloss. Und wieder kein Kommentar, aber dafür ein Blick, ein fragender Blick, der sagte, bist du sicher? Martin nickte, ein Kuss durch die Luft, ein Lächeln, ein hochgereichtes Bier und sie schloss die Luke abermals.
    Martin zog den Sicherheitsgurt an, fummelte den Karabiner durch die Schlaufen und hängte sich an der Reling ein – keine Ahnung, weshalb er das tat, der Sturm, so der Blick zurück, schien sich Zeit zu lassen. Er lehnte sich zurück und trank einen Schluck Bier.
    Was dann passierte, konnte Martin später mit Worten kaum beschreiben. Das einzige Bild, das er im Nachhinein dafür finden konnte, war das vom Hammer, vom schweren Holzhammer, den man brauchte, um Pflöcke in die Erde zu treiben, der ein Schifflein von der Größe eines Korkens mit voller Wucht traf: Auf einen Schlag hing Martin in der Luft, die Beine über der unteren Reling, im Meer. Kein Halt, die Hände suchten nach einem Griff, das Steuer ließ sich zwar fassen, aber daran ziehen durfte er nicht, um den Autopiloten nicht zu derangieren, es dauerte Sekunden, bis er es schaffte, einen Fuß ins Schiff zu bekommen und jetzt realisierte er, was los war: Die Genova lag flach auf dem weißen, kochenden Meer, Tropfen, groß wie Hagelkörner, schlugen auf ihn ein, die Melissa stand kurz vor dem Kentern. Eine größere Welle und der Kiel würde … – Helena!, schoss ihm durch den Kopf. Sie war unter Deck, wusste nicht, was los war, und wenn sie kenterten, Gott, bitte nicht …
    Martin stieß sich ab und bekam die obere Kante des Cockpitsitzes zu fassen. Er zog sich daran hoch, griff nach der Winch und wollte im ersten Moment instinktiv den Autopiloten abstellen, der ihn in dieser misslichen Lage hielt, doch das menschliche Gehirn ist schneller als jeder Computer, wenn es ums Überleben geht: Löse den Piloten, sagte es ihm, und du verlierst die Kontrolle total. Zudem ist das keine Böe, das Schiff wäre schon lange aus dem Ruder |179| gelaufen, aber wenn es keine Böe war – was zum Teufel war es dann? Martin konnte kaum etwas sehen, das Meer war weiß, die Luft war weiß, die Riesentropfen trafen mit einer solchen Geschwindigkeit, dass sie ihm wehtaten und er die Augen

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