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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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gleiche war wie bei
einer Hochzeit — die Freunde des Verstorbenen auf der einen Seite, die der
Witwe auf der anderen. Wenn Dorothy Shine und ihre Schwester da waren, saßen
sie sicher in dem kleinen Angehörigen-Alkoven vorne rechts, den Blicken der
Öffentlichkeit durch eine Trennwand aus Glasziegeln entzogen.
    Ich registrierte links von mir
gedämpfte Unruhe und bemerkte, dass zwei ältere Herren sich vom Seitengang her
in die Bank zwängten. Sobald sie sich gesetzt hatten, spürte ich einen sanften
Stoß von einem Ellbogen. Ich sah zur Seite und war kurz desorientiert, als ich
William und Henry neben mir erblickte. William trug einen
düster-anthrazitfarbenen Anzug. Henry hatte auf seinen üblichen
Shorts-und-T-Shirt-Dress verzichtet und prangte in einem ganz reputierlichen
Outfit, bestehend aus weißem Hemd, Schlips, dunklem Sportsakko und etwas
helleren Hosen. Und Tennis-Schuhen.
    »William fand, Sie sollten in dieser
schweren Stunde Beistand haben«, flüsterte Henry mir zu.
    Ich beugte mich vor. Tatsächlich,
William fixierte mich mit trauerschwerem Blick. »Den kann ich allerdings
brauchen, aber wie kommt er darauf?«
    »Er liebt Trauerfeiern«, flüsterte
Henry. »Das ist für ihn wie Weihnachten. Er ist schon ganz früh aufgewacht, vor
lauter Aufregung.«
    William neigte sich herüber und legte
den Zeigefinger auf die Lippen.
    Ich stieß Henry in die Rippen.
    »Tatsache«, sagte er. »Ich konnte ihn
nicht davon abbringen. Er bestand darauf, dass ich mich in diese lächerliche
Verkleidung werfen sollte. Ich glaube, er hofft auf eine richtig tragische
Friedhofsszene, mit einer Witwe, die sich ins offene Grab stürzt.«
    Etwas raschelte. Vorne war jetzt ein
gesetzter Herr in einem weißen Chorgewand an das Rednerpult getreten. Unter dem
Gewand blitzte ein metallic-blauer Anzug hervor, der ihn wie einen
Fernsehprediger aussehen ließ. Er ordnete offenbar seine Notizen für die
Trauerrede. Das Mikrofon war an, und man hörte lautes Geknister.
    Henry verschränkte die Arme. »Bei den
Katholiken würde das anders laufen. Da hätten sie einen Knaben in einem Kleid,
der einen Weihrauchkessel schwenkt, als ließe er eine Katze am Schwanz
baumeln.«
    William ermahnte Henry mit einem
beredten Stirnrunzeln zur Ruhe. Henry schaffte es, sich die nächsten zwanzig
Minuten zu benehmen, während der kommissarische Pastor die einschlägigen Worte
von sich gab. Es war offensichtlich, dass er eine Art Miet-Geistlicher war, den
man für diesen Anlass angeheuert hatte. Zwei Mal sprach er von Morley als
»Marlon«, und einige Tugenden, die er ihm attestierte, hatten mit dem Menschen,
den ich gekannt hatte, nichts zu tun. Aber wir bemühten uns alle, gute Miene zu
machen. Wenn man tot ist, ist man tot, und es kann einem eigentlich egal sein,
ob ein paar Lügen über einen verbreitet werden. Wir standen auf und setzten uns
wieder hin. Wir sangen Choräle und beugten die Köpfe, während Gebete gesprochen
wurden. Es wurden Passagen aus einer neuen Bibel-Ausgabe gelesen, in der jedes
lyrische Bild und jede poetische Formulierung in banales Alltagsenglisch
übersetzt war.
    »Der Herr ist mein Berater. Er lädt
mich ein, mich im Grünen zu erholen. Er führt mich an stille Teiche. Er baut
mich seelisch auf und führt mich die rechten Wege. Und auch wenn ich durch den
finsteren Wald des Todes muss, werde ich mich nicht fürchten...«
    Henry sah mich konsterniert an.
    Als wir endlich entlassen waren, nahm
mich Henry am Ellbogen, und wir gingen zur Tür. William blieb noch zurück und
stellte sich mit einer Reihe anderer Leute vor dem Sarg an, um dem Toten die
letzte Ehre zu erweisen. Ehe wir auf den Korridor hinaustraten, drehte ich mich
noch einmal kurz um. Ich sah William im ernsten Gespräch mit dem Geistlichen.
Wir gingen durch den Vorderausgang hinaus auf die überdachte Treppe, die die
ganze Breite des Gebäudes einnahm. Die Leute hatten sich in zwei Gruppen
aufgeteilt. Die einen verweilten noch in der Einsegnungshalle, während die
anderen sich draußen auf dem Parkplatz Zigaretten anzündeten. Schwefliger
Streichholzgeruch wehte herüber. Es war richtiges Begräbniswetter, kalt und grau.
Bis zum frühen Nachmittag würden sich die Wolken sicher verziehen, aber vorerst
war der Himmel noch trübe.
    Als ich nach rechts sah, fiel mir eine
Frau ins Auge, die leicht hinkend davoneilte. »Simone?«
    Sie drehte sich um und sah mich an. Ich
bin zwar, was Haute Couture angeht, eine absolute Ignorantin, aber was sie da
trug, konnte sogar

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