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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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müsste er mit Ihnen
geredet haben. Ich wollte nur noch ein paar Dinge ergänzen.«
    Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nie
von ihm gehört, was nur gut ist. Es wäre mir wirklich sehr lästig
gewesen, zwei Mal das Gleiche zu erzählen. Aber was möchten Sie denn von mir
wissen?«
    »Wie haben Sie Isabelle kennen
gelernt?«
    »An der Uni. Wir haben einen Kurs in
Drucktechniken absolviert. Ich war damals achtzehn, unverheiratet, mit einem
kleinen Kind am Hals. Tippy war zwei. Ich wusste, wer ihr Vater war. Er ist
immer mal eingesprungen und hat mir auch finanziell geholfen, aber er war nicht
der Typ, den ich je geheiratet hätte...«
    Ich sah einen Dope-Dealer vor mir, auf
dem einen Nasenflügel einen kleinen Rubin, der aussah wie ein billiges
Glitzersteinchen, das wallende, ungewaschene Haar schulterlang.
    »...Isabelle war gerade neunzehn
geworden und verlobt, mit diesem Burschen, der später bei dem Bootsunfall
umgekommen ist. Wir waren beide viel zu jung für den ganzen Schlamassel, aber
es hat uns zusammengeschweißt. Wir waren vierzehn Jahre lang Freundinnen. Sie
fehlt mir sehr.«
    »Sind Sie mit Simone auch befreundet?«
    »In gewisser Weise schon, aber nicht so
wie mit Isabelle. Für Schwestern waren sie ganz schön verschieden... extrem
sogar. Iz war ein besonderer Mensch. Das war sie wirklich. Enorm begabt.« Sie
hielt inne, um ein letztes Mal an ihrem Zigarettenstummel zu ziehen, ehe sie
ihn auf den Parkplatz schnippte. »Tipp hat Isabelle vergöttert. Sie war für sie
eine Art zweite Mutter. Sie hat Iz Sachen erzählt, die sie mir nicht erzählen
wollte. Ist auch gut so, wenn Sie mich fragen. Ich glaube, es gibt Dinge, die
Mütter über ihre Kinder nicht unbedingt wissen sollten.« Sie unterbrach sich
und hob den einen Zeigefinger. »Augenblick, ich will mal kurz nachsehen, was
meine Leute machen.«
    Sie trat an die Tür und schaute in den
Kursraum. Ich sah, wie ihr einer der Teilnehmer, ein etwa sechzigjähriger Mann,
sein verwirrtes Gesicht zuwandte. Er hob schüchtern die Hand. »Kleinen Moment«,
sagte sie. »Ich muss wohl was tun für mein Geld.«
    Der Mann, der sie zu sich gerufen
hatte, ließ eine umständliche Frage vom Stapel. Rhe begleitete ihre Antwort mit
Gesten, die an Taubstummensprache erinnerten. Was immer sie erklärte — er
schien es erst mal nicht zu kapieren. Das Modell hatte die Pose gewechselt und
saß jetzt auf dem Hocker, den einen nackten Fuß auf der oberen Quersprosse. Ich
sah den Winkel ihrer Hüfte und die Linie, wo die Sitzfläche ihren Hintern
plattdrückte. Rhe war weitergegangen. Ich wartete, dass sie ihre Runde von
Staffelei zu Staffelei beendete.
    Ich hörte Schritte hinter mir und
drehte mich um. Eine junge Frau in engen Jeans und hochhackigen Cowboystiefeln
kam auf mich zu. Sie trug ein Westernhemd und eine große Ledertasche über der
Schulter wie eine Postbotin. Sie sah aus wie eine plumpere Ausgabe von Rhe,
obgleich sich ihre Züge mit fortschreitender Reife wahrscheinlich verfeinern
würden. Im Augenblick wirkte sie wie eine grobe Bleistiftskizze für ein Ölporträt.
Ihr Gesicht war breit, die Wangen noch vom letzten Babyspeck gerundet, aber sie
hatte die gleichen grünen Augen, den gleichen langen, dunklen Zopf. Ich
schätzte sie auf etwa zwanzig. Aufgeweckt und voller Energie. Sie lächelte mich
an.
    »Ist meine Mutter da drin?«
    »Sie kommt gleich wieder. Sind Sie
Tippy?«
    »Ja«, sagte sie überrascht. »Kennen wir
uns?«
    »Ich habe mich gerade mit Ihrer Mutter
unterhalten, und sie sagte, dass Sie kommen würden. Ich heiße Kinsey.«
    »Unterrichten Sie auch hier?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin
Privatdetektivin.«
    Sie verzog den Mund zu einem halben
Lächeln und wartete offenbar auf die Pointe. »Echt?«
    »Echt.«
    »Cool. Und was machen Sie als
Privatdetektivin?«
    »Ich arbeite für einen Anwalt in einer
Gerichtssache.«
    Ihr Lächeln verschwand. »Geht es um
meine Tante Isabelle?«
    »Ja.«
    »Ich dachte, der Prozess sei schon
gewesen, und der Typ sei freigesprochen worden?«
    »Wir versuchen es noch einmal. Diesmal
von einer anderen Seite. Wenn wir Glück haben, kriegen wir ihn dran.«
    Tippys Miene war düster. »Ich konnte
ihn nie leiden. Dieser Fiesling.«
    »Woran erinnern Sie sich noch?«
    Sie verzog das Gesicht... Zögern,
Widerstreben, vielleicht ein Hauch von Trauer. »Nicht viel, nur dass wir alle
geheult haben. Wochenlang. Es war schrecklich. Ich war sechzehn, als es
passierte. Sie war nicht meine richtige Tante, aber ich hatte sie

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