Dringernder Verdacht
hüftlangem, offenen Haar und aufgemalten Gänseblümchen
auf den Wangen. Mit den Jahren war eine gewisse Genervtheit über sie gekommen,
was den Besten unter uns passiert. Sie deponierte die Pinsel auf einer Ablage
und trug die Papierrolle zu einem großen Arbeitstisch, wo sie sich daran
machte, mit einem Riesen-Papierschneider gleich große Stücke abzutrennen.
Etliche Kursteilnehmer ohne eigene Zeichenblöcke stellten sich in einer
Zickzack-Schlange an. Rhe musste meinen Blick gespürt haben. Sie sah auf,
sichtete mich und machte dann weiter. Ich ging quer durch den Raum auf sie zu
und stellte mich vor. Sie hätte nicht freundlicher sein können. Vielleicht ging
es ihr wie so vielen notorisch missgelaunten Leuten, und ihre Gereiztheit
verflog von einer Sekunde auf die andere und machte einer sonnigeren Seite ihres
Wesens Platz.
»Tut mir Leid, wenn ich am Telefon
etwas kurz angebunden war. Ich muss nur eben noch dies hier in Gang bringen,
dann können wir uns draußen vor der Tür unterhalten.« Sie sah auf ihre Uhr. Es
war Punkt sieben. Sie klatschte einmal in die Hände. »Okay, Leute. Fangen wir
an. Wir bezahlen Linda schließlich nach Stunden. Als Erstes machen wir heute
ein paar rasche Skizzen, jeweils eine Minute. Das Ganze ist eine
Lockerungs-Übung, also kümmern Sie sich nicht um Kleinigkeiten. Erfassen Sie
das Ganze. Nutzen Sie das Blatt aus. Ich will keine klitzekleinen pedantischen
Bildchen sehen. Betsy wird auf die Zeit achten. Wenn es klingelt, das nächste
Blatt nehmen und neu anfangen. Noch Fragen? Okay. Viel Spaß.«
Es gab ein kurzes Hin und Her, bis die
Spätankömmlinge freie Staffeleien gefunden hatten. Das Modell hüpfte vom
Hocker, ließ den Morgenmantel fallen und nahm eine Pose ein: vornüber gebeugt,
die Hände auf den Hocker gestützt, der Rücken eine anmutige Kurve. Es war
tröstlich, dass sie aussah wie eine gewöhnliche Sterbliche — rund und
missproportioniert, Bauch und Brust vom Kinderkriegen erschlafft. Die Frau
neben mir musterte das Modell kurz und begann dann zu zeichnen. Fasziniert sah
ich zu, wie sie die Linie der Schulter einfing, den Bogen der Wirbelsäule. Die
Stille im Raum war ein Kontrast für das lyrische Plätschern der Musik.
Rhe beobachtete mich. Ihre Augen waren
kakigrün, ihre Brauen ungezupft. Sie steuerte auf den Hinterausgang zu, und ich
folgte ihr. Die Nachtluft war fünf Grad kühler als der Raum. Sie lehnte sich an
eine der Dachstützen, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Zeichnen
Sie? Sie haben so interessiert geguckt.«
»Können Sie den Leuten wirklich
beibringen, wie man das macht?«
»Natürlich. Möchten Sie’s lernen?«
Ich lachte. »Ich weiß nicht. Es macht
mich kribbelig. Ich habe noch nie irgendwas Künstlerisches gemacht.«
»Sie sollten es mal probieren. Ich
wette, es würde Ihnen gefallen. Im Herbstsemester mache ich einen Grundkurs.
Das hier ist Aktzeichnen, für Leute mit einigen Vorkenntnissen. Glauben Sie
mir. Sie könnten es im Nu lernen.« Ihr Blick schweifte über den Parkplatz.
»Erwarten Sie jemanden?«
Sie sah mich wieder an. »Meine Tochter
kommt gleich vorbei. Sie will sich meinen Wagen leihen. Wenn Sie solange
dableiben, könnten Sie mich vielleicht nachher nach Hause bringen.«
»Klar. Kann ich machen.«
Sie kam wieder auf ihr Thema zurück,
vielleicht, um das Gespräch über Isabelle noch hinauszuschieben. »Ich zeichne,
seit ich zwölf war. Ich erinnere mich noch genau, wie es angefangen hat. In der
sechsten Klasse. Wir haben eine Exkursion gemacht, in einen kleinen Park mit
einem Bassin. Alle anderen malten den Springbrunnen mit diesen kleinen
Strichmännchen drumherum. Ich habe die Zwischenräume des Stacheldrahtzauns
gezeichnet. Mein Bild sah wirklich naturgetreu aus. Die anderen Bilder sahen
alle aus wie von Sechstklässlern gemalt. Es war wie eine optische Täuschung...
irgendwas hat sich verschoben. Ich merkte, wie mein Gehirn plötzlich einen
anderen Gang einlegte, und ich musste lachen. Von da an war ich so eine Art
Wunderkind, der Star in meiner Klasse. Ich konnte alles zeichnen.«
»Darum beneide ich Sie. Ich stelle mir
das immer wunderbar vor. Kann ich Sie jetzt wegen Isabelle fragen? Sie sagten,
Ihre Zeit sei knapp.«
Sie sah jetzt weg, und ihre Stimme
sackte ein bisschen ab. »Von mir aus. Wieso nicht? Ich habe heute Nachmittag
mit Simone gesprochen, und sie hat mir gesagt, worum es geht.«
»Tut mir Leid, dass ich wegen Morley
Shine nicht richtig informiert war. Seinen Akten zufolge
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