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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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zwar wieder fit, aber er ist seit Monaten total deprimiert. Hängt völlig
durch. Lewis sagt, er kreist nur noch um sich selbst. Ich bin sicher, Lewis
schickt ihn nur hierher, um sich an mir zu rächen.«
    »Was haben Sie ihm denn getan?«
    »Keine Ahnung. Das sagt er nicht. Sie
wissen ja, wie väterlich Lewis sich manchmal aufspielt. Er will mich immer dazu
bringen, in mich zu gehen und über meine Sünden nachzudenken, für den Fall,
dass da eine war, von der er nichts weiß. Ich habe ihm 1926 ein Mädchen
ausgespannt. Ich vermute, das will er mir jetzt heimzahlen, aber vielleicht ist
es auch etwas anderes. Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und kein Fünkchen
Großmut.« Henrys Bruder Lewis war sechsundachtzig. Sein dritter Bruder Charlie
war einundneunzig, und seine einzige Schwester würde am einunddreißigsten
Dezember vierundneunzig werden. »Aber ich wette, es war gar nicht seine Idee.
Wahrscheinlich hat Nell William rausgeworfen. Sie konnte ihn noch nie besonders
gut leiden, und jetzt sagt sie, er redet nur noch vom Sterben. Das will sie
nicht hören, wo sie doch bald Geburtstag hat. Sie sagt, er macht sie fix und
fertig.«
    »Wann kommt sein Flugzeug an?«
    »Viertel nach acht, falls es nicht
vorher abstürzt. Ich dachte, ich mache uns Salat und Lasagne, und danach gehen
wir vielleicht noch auf ein Bier zu Rosie. Möchten Sie mit uns essen? Ich habe
einen Kirschkuchen zum Nachtisch gebacken. Das heißt, eigentlich habe ich sechs
gemacht. Die übrigen fünf kriegt Rosie, für meine Getränkerechnung.« Rosie ist
die Wirtin der Kneipe in unserem Viertel, eine Ungarin mit einem
unaussprechlichen Nachnamen. Seit Henry sich als Konditor zur Ruhe gesetzt hat,
tauscht er seine Produkte gegen alles Mögliche ein. Außerdem beliefert er die
Teekränzchen in der Nachbarschaft, und die Nachfrage ist rege.
    »Geht nicht«, sagte ich. »Ich habe um
sieben einen Termin, und es kann später werden. Ich dachte, ich esse noch einen
Happen bei Rosie, ehe ich mich aufmache.«
    »Vielleicht sehen wir uns ja morgen
mal. Ich weiß nicht, wie wir den Tag verbringen werden. Depressive Menschen tun
ja nicht viel. Wahrscheinlich werde ich hier herumsitzen und Zusehen, wie er
sein Elavil schluckt.«
     
    Das Haus, in dem Rosie ihre Kneipe
betreibt, sieht aus, als wäre früher dort mal ein Lebensmittelgeschäft gewesen.
Von außen ist es schmal und unscheinbar, und der Blick durch die Scheiben wird
behindert von abblätternden Reklameaufklebern für Bier und von summenden
Neonschildern. Die Kneipe liegt eingezwängt zwischen einer Elektrowerkstatt und
einem schummrigen Waschsalon, dessen Kunden bei Rosie unterschlüpfen, um bei
einem Bier und einer Zigarette das Ende des Waschgangs abzuwarten. Der Fußboden
besteht aus Holzdielen, die Wände aus dunkelmahagoni gebeiztem Furnierholz. Die
Sitznischen entlang der Wände sind roh gezimmert und ganz darauf angelegt, dass
man sich Splitter holt, wenn man zu schnell hineinrutscht. Es gibt etwa zehn
wacklige Tische mit schwarzen Resopalplatten. Während des Essens ist man nicht
selten damit beschäftigt, das Wackeln mit Hilfe diverser Streichholzbriefchen
und gefalteter Papierservietten abzustellen. Die Beleuchtung ist von der Art,
die einen aussehen lässt, als hätte man zu viel Bräunungscreme benutzt.
    Das Essen selbst verlief in der Regel
ohne Zwischenfälle, wenn man sich erst gefügt hatte und bestellte, was Rosie
empfahl. Sie ist eine imposante Erscheinung: in den Sechzigern, Ungarin, mit
einem riesigen Busen, eine gnadenlose Handlangerin der Food- Mafia. Das
Tagesgericht war diesmal Gulyás.
    »Ich dachte eigentlich eher an einen
Salat. Ich brauche was Gesundes, nach all dem vielen Junk-Food.«
    »Salat für hinterher. Erst gibt Gulyás. Ich mache ganz original. Sie werden mögen«, sagte sie. Sie trug bereits die
Bestellung in das kleine Notizbuch ein, das sie seit einiger Zeit immer mit
sich herumtrug. Ich fragte mich, ob sie dort wohl über alles Buch führte, was
ich je bei ihr gegessen hatte. Ich hatte einmal hineinzulinsen versucht, aber
sie hatte mir mit ihrem Bleistift eins übergezogen.
    »Rosie, ich weiß noch nicht mal, was Gulyás ist.«
    »Schscht! Ich werde Ihnen sagen.«
    »Dann sagen Sie’s mir. Ich bin sehr
neugierig.«
    Sie musste sich erst in Positur stellen
wie eine Konzert-Violinistin. Sie spricht gern ein betont holpriges Englisch,
wohl, weil sie denkt, dass es ihr noch mehr Autorität verleiht. »In Ungarn Gulyás bedeutet >Hirt<. Hirt von Schafe. Diese

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