Drop City
hat.«
Marco mochte Lester nicht und Sky Dog noch viel weniger, er hatte weder die Schlägerei im Graben vergessen noch das, was sie mit seinem Baumhaus angestellt hatten, aber das war ja nun wirklich kaum zu fassen. Lester meinte es ernst. Er glaubte wirklich, daß er hier dazugehörte, glaubte tatsächlich an das Credo der Sippe, an Frieden und Liebe und Brüderlichkeit. Oder wollte es glauben. Wollte es verzweifelt glauben. Es war ein schwieriger Moment, und Marco fühlte sich wie Noah, der oben auf seiner Arche saß und auf all den Abschaum hinunterblickte, der sich über das Land dort unten wälzte. Er drehte sich zu Star um, die jedoch wegsah.
»Oder vielleicht rede ich hier mit dem Falschen, vielleicht sollte ich mich an Alfredo wenden. Oder an Norm.«
»Ich hab gehört, da oben gibt’s Gold«, sagte Franklin und sah jetzt auch wieder angestrengt nach oben. »Habt ihr das etwa vor, Goldwäscher werden?«
»Hey, komm schon, Mann«, sagte Lester. »Vergeben und vergessen, okay? Brüder, okay?«
Ein langer Augenblick verrann. Niemand sagte ein Wort. Marco spürte, wie der Bus unter ihm schwankte, als Reba und Merry hineinkletterten und zwei weitere Kisten mit Geschirr, Töpfen und Pfannen, Werkzeug, Besteck und Einweckgläsern verstauten. Sie wollten die gigantischen KLH-Lautsprecher hinten im Bus montieren und den Plattenspieler an eine Autobatterie anschließen, damit sie abends Musik hören konnten, wenn der Bus am Straßenrand oder auf irgendeinem Campingplatz stand. Maya schneiderte Vorhänge für die Fenster, und Verbie schnitt mit ihrer Schwester einen alten Teppich für die Bodenplatte zurecht. Sogar Pan leistete einen Beitrag, indem er Fischfilets mit Pommes frites und Krautsalat zubereitete, damit die Frauen nicht auch noch mit dem Kochen belastet wurden und sich auf die anstehenden Arbeiten konzentrieren konnten. Marco hörte das leise Stimmengewirr weiter unten, das Geräusch von etwas, was allmählich wuchs und Gestalt annahm, in einer gemeinsamen Anstrengung, bei der alle Nachteile und dunklen Flecken von Drop City verschwammen und unwesentlich wurden. Er fühlte sich gut. Allmächtig. Wie einer der Auserwählten.
»Also, was sagst du?« Lesters Stimme drang zu ihm herauf, zart wie eine Feder. »Sind wir eingeplant oder nicht?«
Marco zog einen Nagel aus der Hemdtasche, legte ihn an und trieb ihn mit zwei wuchtigen Hammerschlägen ins Holz. Das Geräusch knallte in den Morgen hinein wie Schüsse, einer nach dem anderen, gut gezielt und tödlich. Er zuckte die Achseln. »Hey«, sagte er und hörte das Endgültige in seiner Stimme, »ist ’n freies Land.«
Teil IV
DER TRUNKENE WALD
Das Leben hier zeigt sich ebenso im Sonnenlicht wie im Frost, im stürmischen Blut und Saft aller Dinge wie in ihrem Zerfall und plötzlichen Tod.
John Haines: »Die Sterne, der Schnee, das Feuer«
16
Also waren die Flitterwochen vorbei, ehe sie richtig angefangen hatten, und das war eine Schande oder schlimmer noch, ein Verbrechen. Ein Verbrechen, begangen von einem Mann mit einem Gewehr, einer halbautomatischen Remington Kaliber 22, Typ Nylon 66, nach den verformten Geschossen zu urteilen, die Cecil Harder aus den Kadavern von Bobo, Hippie, Girl, Loon und Saucy herauspolkte. Natürlich konnten die Kugeln aus jeder Zweiundzwanziger stammen, aber Joe Bosky besaß eine Nylon 66 – er schätzte sie, wie viele andere, wegen ihres leichten Kunststoffkolbens –, und Joe Bosky war nun mal der einzige auf dieser grünen Erde, der auch nur daran denken würde, jemandem seine Hunde abzuknallen. Hunde erschoß man einfach nicht, ebensowenig wie man einem Mann die Hütte niederbrannte, die Frau vergewaltigte oder eine Kugel zwischen die Schulterblätter setzte, wenn er in seinem Kanu vorbeiglitt. Sess Harder versuchte, von der Natur zu leben, das wußte jeder hier. Geld verdiente er mit Fellen, und ohne Hunde zum Abgehen der gut sechzig Kilometer langen Fallenstrecke, die er von Roy Sender geerbt und auf eigene Faust verbessert und erweitert hatte, war er aufgeschmissen. Das wußte jeder. Jedes Kind wußte es.
Also: anstatt heimzukommen, anstatt seine Braut hochzuheben und sie durch den Schmutzfang und dann über die Schwelle zu tragen, anstatt Hochzeitsgeschenke zu sortieren, die Speisekammer aufzufüllen und dann vielleicht mit Pamela nackt auf einer Decke draußen in der Sonne zu liegen – eine seiner wiederkehrenden sexuellen Phantasien –, mußte er fünf Löcher buddeln, wobei in seinem Herzen Haß und Reue
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