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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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explodierte beinahe. Die Gürtelschnalle ging einfach nicht auf. Er wagte nicht, sich zu bewegen.
    »Merry?«
    Plötzlich teilte sich der Stoff am Zelteingang, Mücken nutzten die Gelegenheit, während Jiminys Gesicht sich hereindrängte und dort hing wie eine zweite Sonne. Einen Moment lang war alles in der Schwebe: Pan war auf frischer Tat beim Kekseklauen ertappt, Merry zog eine wenig erfreute Miene, und Jiminys Gesichtsausdruck durchlief einen ganzen Katalog von widerstreitenden Emotionen, angefangen vom Schock wie von einer Ohrfeige über allmähliche Erkenntnis bis zu Geilheit, Gekränktheit und Haß. Der Fluß rollte sich ein und wieder auf. Die Vögel schwiegen ganz still. Und dann versuchte es Jiminy noch einmal, wie mit einem Kieselstein, den man von hoch oben in den tiefen dahinströmenden Yukon warf: »Merry?«
    Am Morgen meldete sich Ronnie freiwillig, das Boot flußabwärts zu bringen, um zwei von den Leuten aus dem Bus abzuholen (man hatte eine Art Urlaubszeitplan aufgestellt) und die achthundertsiebenundsechzig absolut unerläßlichen Handelsartikel herbeizuschippern, ohne die Drop City Nord binnen kürzester Frist nicht mehr bestehen würde – darunter fanden sich Baustoffe, Werkzeuge, Süßigkeiten, Zigaretten, Haarshampoo, Sonnencreme, Kartoffelchips, billige Taschenbücher von beliebiger Qualität und Thematik, Hauptsache auf englisch. Und die Post, auf keinen Fall die Post vergessen. Jeder gab ihm eine Liste mit – Marco, Star, Reba, Bill und Premstar, sogar Jiminy (ziemlich keß, nach dem, was er sich am vergangenen Abend geleistet hatte). Aber das ging in Ordnung. Sie waren alle Brüder und Schwestern, niemand meckerte, niemand beklagte sich, freie Liebe in einer freien Gesellschaft. Pan sammelte Geld und zusammengefaltete Zettel ein und verteilte dafür Zusicherungen und vorsorgliche Absagen: »Klar doch, wenn ich’s irgendwo finden kann, logisch.« Er war der Mann der Stunde, und alle kamen zu ihm, sogar Norm. (»Bonbons!« brüllte Norm und watete extra in den Fluß hinterher, als Pan schon abgelegt hatte, dem Motor fehlte übrigens nichts, was sich mit ein paar trockenen Zündkerzen nicht beheben ließ, tuck-tuck-tuck, vraooom . »Die altmodische Sorte, ja, Karamel oder Zimtgeschmack und so Zeug. Nimm eine große Dose, so fünf Kilo. Oder zehn. Oder fünfzig!«)
    Das einzige Problem war Verbie. Sie kam mit, und nein, er konnte wahrhaftig auf ihre Gesellschaft verzichten, er brauchte überhaupt niemanden, außer vielleicht Lydia, die ihn mit gespreizten Beinen erwartete, aber Verbies Mutter lag im Krankenhaus mit irgendeinem grauenhaften Alptraum von Unterleibskrebs, der ihr Inneres zu Suppe zerkochte, und deshalb mußte Verbie jetzt zu Hause anrufen und sie ein wenig trösten, obwohl sie vor drei Jahren abgehauen war und seither kein Wort mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Aber da gab es keine Widerrede. Ihre Schwester Angela blieb da. Angela würde sich den Bedürfnissen von Drop City widmen und Pfannen schrubben, Baumstämme entrinden und dreimal täglich gewaltige Töpfe voller Reispampe kochen, dabei hatte sie dieselbe Mutter wie Verbie – war das nicht Opfer genug?
    Es war neun Uhr, als Pan den Bug des Boots in die Strömung des Thirtymile schwang, das Knirschen des Sandes in den Ohren, die Sonne wie ein Schüreisen im Auge, erst in dem einen, dann in dem anderen – zuviel vom Libanesen, zuviel von Tom Krishnas toxischem selbstgebrautem Bier. Er fuhr flußabwärts, mit Verbie als Ballast, die auf der Mitte des Sitzbretts vor ihm kauerte. Leider war sie jedoch ein sprechender Ballast, und ehe sie auch nur bei Sess Harder vorbei waren, hatte sie bereits sechs bis acht Themen angeschnitten, wobei sie ohne jeden Übergang von den gesundheitlichen Vorteilen der Ginsengwurzel zu den Flächenbombardements auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad kam, vom Quecksilber im Thunfisch geradewegs zur Not der Erntearbeiter, weil der Salatboykott einfach nicht weit genug ging. Ronnie starrte an ihrem Gesicht vorbei, an dem zu kleinen Auge, der Hakennase, der dunklen Lücke, wo ihr vorn ein Zahn fehlte. Sie redete über die Schulter und erinnerte dabei an einen Kakadu, der ohne sichtliche Anstrengung den Kopf zweimal herumdrehen konnte. Er hörte ihr nicht zu. Er konzentrierte sich auf die Umgebung, auf die herrliche Landschaft, auf die warme Sonne auf seinem Rücken und den kühlen Wind, der ihm ins Gesicht blies, dabei suchte er das Ufer nach etwas ab, was sich mit einer Kugel durchlöchern ließ. Das war

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