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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erweisen würde – Alfredo war sich noch nicht sicher, aber er würde Zeit genug dafür haben, es in die eine oder andere Richtung auszuarbeiten, sobald erst mal der Vorhang über dem Tageslicht fiel, und dieser Moment stand nahe bevor: am einundzwanzigsten November war es soweit, laut Sess Harder. Es wurde auch eine Menge gestrickt. Man spielte Scrabble, Dame und Schach. Und natürlich fand man die Zeit für Schlittenfahrten am nahen Hang. Mit den drei Paar Schlittschuhen, die es auf Drop City gab, organisierte man Eispartys auf dem Fluß, es wurden Schneefreaks gebaut, mit Weidenzweigen als Haaren, einem abgelegten Stirnband um den Kopf und vielleicht noch einem schillernd grünen Hemd oder einer bestickten Weste dazu. Spiel und Spaß. Es war alles Spiel und Spaß.
    Der Himmel hing tief. Am Vormittag waren die Temperaturen nicht über minus zehn gestiegen, langsam und schwerfällig schob sich die blaue Linie im Thermometer hinauf, Sprosse für Sprosse. Vielleicht lag sogar Schnee in der Luft, wenn er nur genug davon verstehen würde, um es zu spüren, es zu riechen, so wie Sess Harder es konnte oder Iron Steve oder der alte Tim Yule, der bei jedem Wetter draußen auf der Veranda seines kleinen Fachwerkhauses in Boynton saß. Marco fühlte den Sog von Drop City nachlassen, während er sich flußabwärts entfernte, und er blickte durchaus zurück, zwei- oder dreimal, einfach nur, um zu bestaunen, wie die Gebäude der Ödnis trotzten, um die ineinander verschlungenen Rauchfahnen aus den vier Schornsteinen himmelwärts steigen zu sehen und dem schwächer werdenden Krakeelen von Che und Sunshine zu lauschen, die als klitzekleine Gestalten in ihren handgenähten Schneeanzügen und den roten Gummistiefeln über den Vorplatz flitzten.
    Er hatte Ronnie eine Woche gegeben, und eine Woche war eigentlich schon zu lange. Joe Bosky und Pan mochten Fleisch genug haben, und Sess Harders Räucherkammer war ebenfalls gefüllt, und wahrscheinlich war jedermann in Boynton reichlich versorgt, genau wie die Wochenendjäger aus Fairbanks, Anchorage und von weiter südlich, aber auf Drop City hatten sie nichts. Und das war ein Problem, ein echtes Problem, denn sehr bald wäre es zu spät zum Jagen, die Elche wären zu sehnig, und trotz aller Proteste der Vegetarier brauchte die Kommune Fleisch, um bis zum Frühjahr durchzuhalten, sonst würden sie irgendwann die Mäuse unter den Dielen fangen und ihre Schuhe kochen müssen wie weiland Charlie Chaplin. Ende Oktober, kurz vor Halloween, waren Star und er von einem Geräusch aufgewacht, als würde jemand Zweihundert-Liter-Fässer mit Diesel den Hang hinabrollen, ein dumpfes Rumpeln und Krachen, das das gesamte Blockhaus erzittern und ihn aus dem Bett hüpfen ließ, um auf Strümpfen zur Tür zu hasten. Auf dem Kies der Sandbank kämpften zwei Elchbullen gegeneinander, gewaltige bebende Wagenladungen von Fleisch waren das, die da auf ihren lächerlich dünnen Elchbeinchen dahinstaksten, und sie verschwendeten keinen Gedanken auf ihre Umwelt, sondern hatten nur sich selbst im Kopf – und die Elchkuh, die hinter ihnen durch das Gelb der Weidenzweige vage sichtbar war. Aber Marco stand mit völlig leeren Händen da, wie der Lehrling eines Steinzeitjägers, und was sollte er schon tun, Knüppel nach den Tieren werfen vielleicht? Auf ihren Rücken hechten und ihnen nacheinander die Kehlen durchschneiden, während der Rest der Sippe händeringend zusah? Ronnie hatte die Gewehre kurzerhand mitgenommen, als gehörten sie ihm allein, und er würde sie zurückgeben müssen. Das war keine Frage von Besitzrechten oder überhaupt von Recht und Unrecht – es ging ums nackte Überleben.
    Bei Sess und Pamela stieg Rauch aus dem Schornstein, aber vor dem Haus bewegte sich nichts – und das war in Ordnung so, denn Marco wollte erst auf dem Rückweg vorbeischauen, mit den Gewehren über der Schulter. Sess war sein Ratgeber, sein Mentor, der Mann, der ihn in die tiefgründigen Geheimnisse des Lebens im hohen Norden einweihte, und es war schon peinlich genug gewesen, vor ihm zugeben zu müssen, daß sie nicht mal ein einziges Gewehr besaßen, das diese Bezeichnung verdient hätte; Deuce hatte ein Zweiundzwanziger-Kleinkaliber, mit dem man Kaninchen und Erdhörnchen schießen konnte, aber das war’s dann auch schon, und er biß sich lieber in den Arsch, ehe er noch einmal Schwäche vor Sess zeigte. Also marschierte er am Haus der Harders vorbei, und obwohl einer der Hunde kurz anschlug, öffnete niemand die

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