Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Tür, und kein Gesicht erschien am Fenster.
    Es lag nicht viel Schnee – gerade genug, daß der Boden weiß war –, und Sess hatte ihm schon mal gesagt, er solle hier kein tiefverschneites Weihnachtsmannland erwarten, oder wie die Leute im Süden sich Alaska eben so vorstellten. Es war keine Postkartenlandschaft. Es waren nicht die Cascades, und es war nicht die Sierra Nevada. Sie waren im Innern Alaskas, und das war so ziemlich die trockenste Gegend des ganzen Bundesstaats: viel mehr als dreißig bis vierzig Zentimeter Niederschlag pro Jahr fielen hier einfach nicht. Die Sache war nur, diese Niederschläge blieben Ewigkeiten liegen . Im Winter taute nie etwas weg, und im Sommer bildete das bißchen Regen Pfützen über dem Permafrostboden, was wiederum ein Paradies für Moskitos schuf – und für die Stechfliegen und die Kriebelmücken und den ganzen Rest der surrenden und stechenden Welt. Marco stapfte weiter und suchte den Schnee nach Fährten ab, versuchte das Land zu lesen, so wie Sess es tat. Es war jetzt wärmer, in den einstelligen Minusgraden, und er öffnete seinen Parka und ließ die Enden des Schals herabhängen. Nach einer Weile begann er zwischen den Zähnen zu pfeifen, eine schrille Version von »I Am a Child«, und wo hatte er den Song nur her? Er hatte in letzter Zeit öfter mal auf der Gitarre herumgezupft – auf Geoffreys Gitarre –, und das wäre vielleicht eine gute Melodie zum Einstudieren, dachte er sich, nicht allzu kompliziert, eine süße, trällernde Tonfolge von Akkorden, aber der Vokalpart – hm, beim Singen mußte er sich ziemlich anstrengen. Oder er sang es eine Oktave tiefer, das könnte reichen.
    Seine Laune veränderte sich jäh, als er um die Flußbiegung kam und den Woodchopper Creek sah. Jetzt pfiff er nicht mehr, und er dachte auch nicht ans Gitarrespielen. Er war noch nie bei Bosky gewesen und wußte nicht, was ihn dort erwartete – abgesehen von Unmut, Widerworten und einem wahren Gewitter aus Lügen, Ausreden und Winkelzügen von Pan. Er stellte ihn sich vor – Pan, Ronnie –, mit seiner typisch geschürzten, etwas verloren wirkenden Oberlippe, dem weichen Kinn und den Augen, die es immer schafften, verletzt und gekränkt zu blicken, einen aber ständig abcheckten, so als würde er keinen Moment damit aufhören, die eigene Wirkung auf andere zu bewerten, Ronnie der Dieb, Ronnie der Meuchelmörder. Marco machte sich hart. Atmete tief ein, bis seine Lunge brannte. Und er ging auch nicht mehr, sondern er marschierte, marschierte wie ein Soldat auf dem Weg in die Schlacht, den Bach entlang, über den Vorplatz und die Veranda hinauf, und er war viel zu aufgebracht, um überhaupt zu bemerken, daß Joe Boskys unlackierte Cessna 180 mit den Landekufen und der aufgemalten schwarzen Registriernummer nirgends zu sehen war.
    Er klopfte an, und das war an sich eine alberne Geste, denn hier klopfte niemand an, es gab keine Mormonen oder Zeitungsjungen, Avon-Beraterinnen oder Nachbarn, die eine Tasse Zucker leihen wollten. Niemand hatte je an diese Tür geklopft. Und es würde auch niemals jemand anklopfen, und wenn das Haus noch hundert Jahre stand. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige über ihm und kühlte ihm die verschwitzte Stirn. »Ronnie!« rief er. »Ronnie, bist du da drin?« Nichts. Oder war da ein Geräusch, hörte er Stimmen? »Ronnie, ich bin’s. Marco.«
    Er wollte die Tür eben aufstoßen – offenbar niemand zu Hause, wenn das auch erstaunlich war –, da schwang sie auf, und Pan stand vor ihm, barfuß und in Thermounterwäsche starrte er ihn an wie ein Fisch am Haken. Pan hatte noch gepennt, das war’s, gelbliche Krusten klebten an seinen Wimpern, die Haare auf der einen Seite des Kopfes waren plattgedrückt – Vorteil Marco. »Oh, hey, Alter«, murmelte Ronnie. »Hallo, ist ja nett, dich hier zu sehen.«
    Von drinnen kam die verschlafen-genervte Stimme von Sky Dog, von Bruce : »Scheiße, mach doch mal die Tür zu! Was ist denn da draußen los, Pan?«
    Ronnie schlurfte zurück ins Haus und sagte über die Schulter: »Willst du ’n Kaffee? Ich wollte gerade welchen aufsetzen.«
    Marco duckte sich unter dem Türrahmen hindurch, betrat das Blockhaus und schloß die Tür hinter sich. Es war dunkel, seine Pupillen waren noch verengt vom grellen Schnee und dem blitzenden Eis des Woodchopper Creek, und eine Zeitlang konnte er gar nichts sehen. Aber riechen konnte er, und was er da roch, war eine eigenartige Mischung von zerkochtem Fleisch, Körperausdünstungen,

Weitere Kostenlose Bücher