Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
gab einen galligen Geruch von sich, beißend und scharf, Vögel landeten auf den Ästen wie dunkle geworfene Steine. Marco schlief weiter. Sie fand ihre Unterhose und die Shorts nicht, und irgend etwas schien sie gestochen zu haben, denn eine Perlenschnur aus Pusteln zog sich über ihren Unterleib und verschwand zwischen den Brüsten. Wo waren ihre Schuhe? Sie setzte sich auf und sah in die Gegend.
    Plötzlich hatte sie Angst. Notfall? Was denn für ein Notfall? Da stieg vor ihr das Bild des kleinen Jungen auf – Che –, die strubbligen Haare naß und verklebt, seine Haut in der Farbe von Olivenöl, das in der Pfanne kalt geworden war, und die Augen tief in die Höhlen zurückgetreten, als wollten sie sich für immer dort verstecken, und dann dachte sie an den Druck seiner kalten Lippen auf ihren – wie zwei kopulierende Regenwürmer hatte sich das angefühlt –, aber war das nicht alles längst erledigt? Hatte sie Che nicht gerettet? Den Tag gerettet?
    Es war nicht Morgen. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Es war die Abenddämmerung, jetzt wußte sie es. Sie schmeckte es in der Luft, hörte es an der Art, wie die Vögel keckerten und zeterten. Es war Mittsommer, der längste Tag des Jahres, und auch der schlimmste, bei weitem der schlimmste – und er ging immer noch weiter. Marco lag neben ihr, sein Haar war über dem Gesicht verteilt, die rechte Faust hielt er vor der Schläfe geballt, wie um einen Schlag abzuwehren. Sie hörte ihm eine Zeitlang beim Atmen zu, fasziniert von dem stetigen, sicheren Rhythmus – auseinander, zusammen, wieder auseinander –, dann rüttelte sie ihn wach.
    »Was?« sagte er und stützte sich auf den Ellenbogen, so daß sie ihn in seiner ganzen Pracht bewundern konnte.
    »Norm läßt uns holen. Irgendein Notfall. Er hat eine Versammlung einberufen ...«
    »Notfall? Jetzt? Wie spät ist es denn?«
    »Etwa neun oder so – keine Ahnung. Erst dachte ich, es wäre schon Morgen.«
    »Was denn bloß für ein Notfall – ist die Pumpe für den Brunnen heißgelaufen oder so? Oder laß mich raten: Reba sind schon wieder ihre Gören weggerannt. Könnte aber auch was mit Pan sein. Ist der vielleicht in sein Würstchenfeuer gefallen und hat sich die Ohren versengt?«
    »Verbie hat nichts gesagt. Aber sie klang total ausgeflippt.«
    »So klingt die doch immer.«
    Er griff nach ihr, wollte sie zurück zu sich in den Schlafsack ziehen, aber sie schob seine Hand weg. »Ich hab Angst«, sagte sie. »Nach heute nachmittag ... Die Kinder, das Pferd, weißt du? Das alles. Wir haben die Kontrolle verloren, Marco – hier sind alle total außer Kontrolle.«
    »Allerdings«, sagte er, und sein Lächeln war dabei so fein, daß man es kaum sah. »Aber geht es nicht genau darum?«
    Das große Haus war strahlend erleuchtet vom Licht des Elektrizitätswerks, dem Licht, das zu sparen Norm und Alfredo immer allen einschärften – Kerzen, Leute, nehmt doch Kerzen! –, und als sie und Marco die abgelatschten Stufen zur Veranda hinaufstiegen, schienen die Bretter unter ihren Füßen zu zerfallen, als stünde das Haus kurz vor dem Einsturz. Sie sah das gesplitterte Holz des Türrahmens, das löchrige Drahtgitter der Fliegentür, den abgeschabten Fleck, wo der Zugriff Zehntausender Hände den Lack rund um den Haken weggerieben hatte, sah alles mit absoluter Klarheit, obwohl sie einen Kopfschmerz herannahen fühlte, einen erbarmungslos pochenden, frisch erwachten Schrei von Schmerz, aber so war das eben mit Acid, diesen Preis mußte man zahlen. Öffne dein Bewußtsein, und rein mit den Reizen. Sicher doch. Und am Ende fühlte man sich wie halbtot am Strand angespült. Sie stützte sich an Marcos Arm ab, dann knallte die Fliegentür hinter ihnen zu, und sie standen unsicher in dem großen Zimmer, in dem die Atmosphäre eines Bestattungsinstituts herrschte – niemand spielte Schach oder Dame oder machte es sich mit einem Buch in einem der speckigen Lehnsessel gemütlich. Nur Unrat gab es genug – Zeitungen, Zeitschriften, schmutzige Teller, Tassen und Gläser, schmutzige Sachen und ein Paar schlammige Stiefel –, und wo es Unrat gab, war auch Leben. Wie um diese Pointe zu unterstreichen, wählten die Hunde genau diesen Moment, um in den Raum zu streichen und an ihrer Hand zu schnuppern, während nun auch leises Stimmengemurmel aus dem Nachbarzimmer herüberdrang.
    Fast alle hatten sich bereits eingefunden, die meisten hockten im Schneidersitz auf dem Boden, mit bleichen Gesichtern und leerem Blick. Die Leute

Weitere Kostenlose Bücher