Drucke zu Lebzeiten
Josefine beab-
sichtige, wenn man ihr nicht nachgebe, die Koloraturen
zu kürzen. Ich weiß nichts von Koloraturen, habe in
ihrem Gesänge niemals etwas von Koloraturen bemerkt.
Josefine aber will die Koloraturen kürzen, vorläufig
nicht beseitigen, sondern nur kürzen. Sie hat angeblich
ihre Drohung wahr gemacht, mir allerdings ist kein Un-
terschied gegenüber ihren früheren Vorführungen aufge-
fallen. Das Volk als Ganzes hat zugehört wie immer,
ohne sich über die Koloraturen zu äußern, und auch die
Behandlung von Josefinens Forderung hat sich nicht ge-
ändert. Übrigens hat Josefine, wie in ihrer Gestalt, un-
leugbar auch in ihrem Denken manchmal etwas recht
Graziöses. So hat sie z. B. nach jener Vorführung, so als
sei ihr Entschluß hinsichtlich der Koloraturen gegenüber
[ ]
dem Volk zu hart oder zu plötzlich gewesen, erklärt,
nächstens werde sie die Koloraturen doch wieder voll-
ständig singen. Aber nach dem nächsten Konzert besann
sie sich wieder anders, nun sei es endgültig zu Ende mit
den großen Koloraturen, und vor einer für Josefine gün-
stigen Entscheidung kämen sie nicht wieder. Nun, das
Volk hört über alle diese Erklärungen, Entschlüsse und
Entschlußänderungen hinweg, wie ein Erwachsener in
Gedanken über das Plaudern eines Kindes hinweghört,
grundsätzlich wohlwollend, aber unerreichbar.
Josefine aber gibt nicht nach. So behauptete sie z. B.
neulich, sie habe sich bei der Arbeit eine Fußverletzung
zugezogen, die ihr das Stehen während des Gesanges
beschwerlich mache; da sie aber nur stehend singen kön-
ne, müsse sie jetzt sogar die Gesänge kürzen. Trotzdem
sie hinkt und sich von ihrem Anhang stützen läßt, glaubt
niemand an eine wirkliche Verletzung. Selbst die beson-
dere Empfindlichkeit ihres Körperchens zugegeben,
sind wir doch ein Arbeitsvolk und auch Josefine gehört
zu ihm; wenn wir aber wegen jeder Hautabschürfung
hinken wollten, düre das ganze Volk mit Hinken gar
nicht auören. Aber mag sie sich wie eine Lahme führen
lassen, mag sie sich in diesem bedauernswerten Zustand
öers zeigen als sonst, das Volk hört ihren Gesang dank-
bar und entzückt wie früher, aber wegen der Kürzung
macht es nicht viel Auebens.
Da sie nicht immerfort hinken kann, erfindet sie etwas
[ ]
anderes, sie schützt Müdigkeit vor, Mißstimmung,
Schwäche. Wir haben nun außer dem Konzert auch ein
Schauspiel. Wir sehen hinter Josefine ihren Anhang, wie
er sie bittet und beschwört zu singen. Sie wollte gern,
aber sie kann nicht. Man tröstet sie, umschmeichelt sie,
trägt sie fast auf den schon vorher ausgesuchten Platz,
wo sie singen soll. Endlich gibt sie mit undeutbaren Trä-
nen nach, aber wie sie mit offenbar letztem Willen zu
singen anfangen will, matt, die Arme nicht wie sonst
ausgebreitet, sondern am Körper leblos herunterhän-
gend, wobei man den Eindruck erhält, daß sie vielleicht
ein wenig zu kurz sind – wie sie so anstimmen will, nun,
da geht es doch wieder nicht, ein unwilliger Ruck des
Kopfes zeigt es an und sie sinkt vor unseren Augen zu-
sammen. Dann allerdings ra sie sich doch wieder auf
und singt, ich glaube, nicht viel anders als sonst, viel-
leicht wenn man für feinste Nuancen das Ohr hat, hört
man ein wenig außergewöhnliche Erregung heraus, die
der Sache aber nur zugute kommt. Und am Ende ist sie
sogar weniger müde als vorher, mit festem Gang, soweit
man ihr huschendes Trippeln so nennen kann, entfernt
sie sich, jede Hilfe des Anhangs ablehnend und mit kal-
ten Blicken die ihr ehrfurchtsvoll ausweichende Menge
prüfend.
So war es letzthin, das Neueste aber ist, daß sie zu
einer Zeit, wo ihr Gesang erwartet wurde, verschwun-
den war. Nicht nur der Anhang sucht sie, viele stellen
[ ]
sich in den Dienst des Suchens, es ist vergeblich; Josefi-
ne ist verschwunden, sie will nicht singen, sie will nicht
einmal darum gebeten werden, sie hat uns diesmal völlig
verlassen.
Sonderbar, wie falsch sie rechnet, die Kluge, so falsch,
daß man glauben sollte, sie rechne gar nicht, sondern
werde nur weiter getrieben von ihrem Schicksal, das in
unserer Welt nur ein sehr trauriges werden kann. Selbst
entzieht sie sich dem Gesang, selbst zerstört sie die
Macht, die sie über die Gemüter erworben hat. Wie
konnte sie nur diese Macht erwerben, da sie
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