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Drucke zu Lebzeiten

Drucke zu Lebzeiten

Titel: Drucke zu Lebzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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dort knieend eine halbe Stunde am Abend, unter-
     dessen ich sie in Ruhe betrachten konnte.
    Als einmal das Mädchen nicht gekommen war und ich
    unwillig auf die Betenden blickte, fiel mir ein junger
    Mensch auf, der sich mit seiner ganzen mageren Gestalt
    auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte
     er mit der ganzen Kra seines Körpers seinen Schädel
    und schmetterte ihn seufzend in seine Handflächen, die
    auf den Steinen auflagen.
    In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die o ihr
    eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung dreh-
     ten, um nach dem Betenden hinzusehn. Diese Aufmerk-
    samkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor jedem
    seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn,
    ob die zuschauenden Leute zahlreich wären. Ich fand
    das ungebührlich und beschloß ihn anzureden, wenn er
     aus der Kirche ginge, und ihn auszufragen, warum er in
    dieser Weise bete. Ja, ich war ärgerlich, weil mein Mäd-
    chen nicht gekommen war.
    [  ]
    Aber erst nach einer Stunde stand er auf, schlug ein
    ganz sorgfältiges Kreuz und ging stoßweise zum Becken.
    Ich stellte mich auf dem Wege zwischen Becken und
    Türe auf und wußte, daß ich ihn nicht ohne Erklärung
    durchlassen würde. Ich verzerrte meinen Mund, wie ich 
    es immer als Vorbereitung tue, wenn ich mit Bestimmt-
    heit reden will. Ich trat mit dem rechten Beine vor und
    stützte mich darauf, während ich das linke nachlässig auf
    der Fußspitze hielt; auch das gibt mir Festigkeit.
    Nun ist es möglich, daß dieser Mensch schon auf mich 
    schielte, als er das Weihwasser in sein Gesicht spritzte,
    vielleicht auch hatte er mich schon früher mit Besorgnis
    bemerkt, denn jetzt unerwartet rannte er zur Türe hin-
    aus. Die Glastür schlug zu. Und als ich gleich nachher
    aus der Türe trat, sah ich ihn nicht mehr, denn dort gab 
    es einige schmale Gassen und der Verkehr war mannig-
    faltig.
    In den nächsten Tagen blieb er aus, aber mein Mäd-
    chen kam. Sie war in dem schwarzen Kleide, welches auf
    den Schultern durchsichtige Spitzen hatte, – der Halb- 
    mond des Hemdrandes lag unter ihnen –, von deren
    unterem Rande die Seide in einem wohlgeschnittenen
    Kragen niederging. Und da das Mädchen kam, vergaß
    ich den jungen Mann und selbst dann kümmerte ich
    mich nicht um ihn, als er später wieder regelmäßig kam 
    und nach seiner Gewohnheit betete. Aber immer ging er
    mit großer Eile an mir vorüber, mit abgewendetem Ge-
    [  ]
    sichte. Vielleicht lag es daran, daß ich mir ihn immer nur
    in Bewegung denken konnte, so daß es mir, selbst wenn
    er stand, schien, als schleiche er.
    Einmal verspätete ich mich in meinem Zimmer. Trotz-
     dem ging ich noch in die Kirche. Ich fand das Mädchen
    nicht mehr dort und wollte nach Hause gehn. Da lag
    dort wieder dieser junge Mensch. Die alte Begebenheit
    fiel mir jetzt ein und machte mich neugierig.
    Auf den Fußspitzen glitt ich zum Türgang, gab dem
     blinden Bettler, der dort saß, eine Münze und drückte
    mich neben ihn hinter den geöffneten Türflügel; dort
    saß ich eine Stunde lang und machte vielleicht ein listi-
    ges Gesicht. Ich fühlte mich dort wohl und beschloß
    öers herzukommen. In der zweiten Stunde fand ich es
     unsinnig hier wegen des Beters zu sitzen. Und dennoch
    ließ ich noch eine dritte Stunde schon zornig die Spin-
    nen über meine Kleider kriechen, während die letzten
    Menschen lautatmend aus dem Dunkel der Kirche
    traten.
     Da kam er auch. Er ging vorsichtig und seine Füße
    betasteten zuerst leichthin den Boden, ehe sie auraten.
    Ich stand auf, machte einen großen und geraden
    Schritt und ergriff den jungen Menschen. „Guten
    Abend“, sagte ich und stieß ihn, meine Hand an seinem
     Kragen, die Stufen hinunter auf den beleuchteten Platz.
    Als wir unten waren, sagte er mit einer völlig unbefe-
    stigten Stimme: „Guten Abend, lieber, lieber Herr, zur-
    [  ]
    nen Sie mir nicht, Ihrem höchst ergebenen Diener.“
    „Ja“, sagte ich, „ich will Sie einiges fragen, mein Herr;
    voriges Mal entkamen Sie mir, das wird Ihnen heute
    kaum gelingen.“
    „Sie sind mitleidig, mein Herr, und Sie werden mich 
    nach Hause gehen lassen. Ich bin bedauernswert, das ist
    die Wahrheit.“
    „Nein“, schrie ich in den Lärm der vorüberfahrenden
    Straßenbahn, „ich lasse Sie nicht. Gerade solche Ge-
    schichten gefallen mir. Sie sind ein Glücksfang. Ich

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