Drucke zu Lebzeiten
Wohnungs-
tür läutete. „Das ist jemand aus dem Geschä“, sagte er
sich und erstarrte fast, während seine Beinchen nur desto
eiliger tanzten. Einen Augenblick blieb alles still. „Sie
öffnen nicht“, sagte sich Gregor, befangen in irgendeiner
unsinnigen Hoffnung. Aber dann ging natürlich wie im-
mer das Dienstmädchen festen Schrittes zur Tür und
öffnete. Gregor brauchte nur das erste Grußwort des
Besuchers zu hören und wußte schon, wer es war – der
Prokurist selbst. Warum war nur Gregor dazu verurteilt,
bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten
[ ]
Versäumnis gleich den größten Verdacht faßte? Waren
denn alle Angestellten samt und sonders Lumpen, gab es
denn unter ihnen keinen treuen ergebenen Menschen,
der, wenn er auch nur ein paar Morgenstunden für das
Geschä nicht ausgenützt hatte, vor Gewissensbissen
närrisch wurde und geradezu nicht imstande war, das
Bett zu verlassen? Genügte es wirklich nicht, einen
Lehrjungen nachfragen zu lassen – wenn überhaupt die-
se Fragerei nötig war –, mußte da der Prokurist selbst
kommen, und mußte dadurch der ganzen unschuldigen
Familie gezeigt werden, daß die Untersuchung dieser
verdächtigen Angelegenheit nur dem Verstand des Pro-
kuristen anvertraut werden konnte? Und mehr infolge
der Erregung, in welche Gregor durch diese Überlegun-
gen versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlus-
ses, schwang er sich mit aller Macht aus dem Bett. Es gab
einen lauten Schlag, aber ein eigentlicher Krach war es
nicht. Ein wenig wurde der Fall durch den Teppich
abgeschwächt, auch war der Rücken elastischer, als Gre-
gor gedacht hatte, daher kam der nicht gar so auffallende
dumpfe Klang. Nur den Kopf hatte er nicht vorsichtig
genug gehalten und ihn angeschlagen; er drehte ihn und
rieb ihn an dem Teppich vor Ärger und Schmerz.
„Da drin ist etwas gefallen“, sagte der Prokurist im
Nebenzimmer links. Gregor suchte sich vorzustellen, ob
nicht auch einmal dem Prokuristen etwas Ähnliches pas-
sieren könnte, wie heute ihm; die Möglichkeit dessen
[ ]
mußte man doch eigentlich zugeben. Aber wie zur rohen
Antwort auf diese Frage machte jetzt der Prokurist im
Nebenzimmer ein paar bestimmte Schritte und ließ seine
Lackstiefel knarren. Aus dem Nebenzimmer rechts flü-
sterte die Schwester, um Gregor zu verständigen: „Gre-
gor, der Prokurist ist da.“ „Ich weiß“, sagte Gregor vor
sich hin; aber so laut, daß es die Schwester hätte hören
können, wagte er die Stimme nicht zu erheben.
„Gregor“, sagte nun der Vater aus dem Nebenzimmer
links, „der Herr Prokurist ist gekommen und erkundigt
sich, warum du nicht mit dem Frühzug weggefahren
bist. Wir wissen nicht, was wir ihm sagen sollen. Übri-
gens will er auch mit dir persönlich sprechen. Also bitte
mach die Tür auf. Er wird die Unordnung im Zimmer
zu entschuldigen schon die Güte haben.“ „Guten Mor-
gen, Herr Samsa“, rief der Prokurist freundlich dazwi-
schen. „Ihm ist nicht wohl“, sagte die Mutter zum Pro-
kuristen, während der Vater noch an der Tür redete,
„ihm ist nicht wohl, glauben Sie mir, Herr Prokurist.
Wie würde denn Gregor sonst einen Zug versäumen!
Der Junge hat ja nichts im Kopf als das Geschä. Ich
ärgere mich schon fast, daß er abends niemals ausgeht;
jetzt war er doch acht Tage in der Stadt, aber jeden
Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch
und liest still die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist
schon eine Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laub-
sägearbeiten beschäigt. Da hat er zum Beispiel im Lau-
[ ]
fe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen ge-
schnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt
drin im Zimmer; Sie werden ihn gleich sehen, bis Gregor
aufmacht. Ich bin übrigens glücklich, daß Sie da sind,
Herr Prokurist; wir allein hätten Gregor nicht dazu ge-
bracht, die Tür zu Öffnen; er ist so hartnäckig; und be-
stimmt ist ihm nicht wohl, trotzdem er es am Morgen
geleugnet hat.“ „Ich komme gleich“, sagte Gregor lang-
sam und bedächtig und rührte sich nicht, um kein Wort
der Gespräche zu verlieren. „Anders, gnädige Frau,
kann ich es mir auch nicht erklären“, sagte der Proku-
rist, „hoffentlich ist es nichts Ernstes. Wenn ich auch
andererseits sagen muß, daß wir
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