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Drucke zu Lebzeiten

Drucke zu Lebzeiten

Titel: Drucke zu Lebzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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und die Ohren spitzen; Sie werden etwa
    sagen: ,Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes‘,
    oder ,Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil ver- 
    hört‘, oder ,Bei uns erfährt der Verurteilte das Urteil‘,
    oder ,Bei uns gibt es auch andere Strafen als Todesstra-
    fen‘, oder ,Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter‘.
    Das alles sind Bemerkungen, die ebenso richtig sind, als
    sie Ihnen selbstverständlich erscheinen, unschuldige Be- 
    merkungen, die mein Verfahren nicht antasten. Aber wie
    wird sie der Kommandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den
    guten Kommandanten, wie er sofort den Stuhl beiseite
    schiebt und auf den Balkon eilt, ich sehe seine Damen,
    wie sie ihm nachströmen, ich höre seine Stimme – die 
    Damen nennen sie eine Donnerstimme –, nun, und er
    spricht: ,Ein großer Forscher des Abendlandes, dazu be-
    stimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu über-
    prüfen, hat eben gesagt, daß unser Verfahren nach altem
    Brauch ein unmenschliches ist. Nach diesem Urteil einer 
    solchen Persönlichkeit ist es mir natürlich nicht mehr
    möglich, dieses Verfahren zu dulden. Mit dem heutigen
    Tage also ordne ich an – usw.‘ Sie wollen eingreifen, Sie
    haben nicht das gesagt, was er verkündet, Sie haben mein
    Verfahren nicht unmenschlich genannt, im Gegenteil, 
    Ihrer tiefen Einsicht entsprechend halten Sie es für das
    menschlichste und menschenwürdigste, Sie bewundern
    [  ]
    auch diese Maschinerie – aber es ist zu spät; Sie kommen
    gar nicht auf den Balkon, der schon voll Damen ist; Sie
    wollen sich bemerkbar machen; Sie wollen schreien;
    aber eine Damenhand hält Ihnen den Mund zu – und ich
     und das Werk des alten Kommandanten sind verloren.“
    Der Reisende mußte ein Lächeln unterdrücken; so
    leicht war also die Aufgabe, die er für so schwer gehalten
    hatte. Er sagte ausweichend: „Sie überschätzen meinen
    Einfluß; der Kommandant hat mein Empfehlungsschrei-
     ben gelesen, er weiß, daß ich kein Kenner der gerichtli-
    chen Verfahren bin. Wenn ich eine Meinung aussprechen
    würde, so wäre es die Meinung eines Privatmannes, um
    nichts bedeutender als die Meinung eines beliebigen an-
    deren, und jedenfalls viel bedeutungsloser als die Mei-
     nung des Kommandanten, der in dieser Straolonie, wie
    ich zu wissen glaube, sehr ausgedehnte Rechte hat. Ist
    seine Meinung über dieses Verfahren eine so bestimmte,
    wie Sie glauben, dann, fürchte ich, ist allerdings das En-
    de dieses Verfahrens gekommen, ohne daß es meiner
     bescheidenen Mithilfe bedüre.“
    Begriff es schon der Offizier? Nein, er begriff noch
    nicht. Er schüttelte lebha den Kopf, sah kurz nach dem
    Verurteilten und dem Soldaten zurück, die zusammen-
    zuckten und vom Reis abließen, ging ganz nahe an den
     Reisenden heran, blickte ihm nicht ins Gesicht, sondern
    irgendwohin auf seinen Rock und sagte leiser als früher:
    „Sie kennen den Kommandanten nicht; Sie stehen ihm
    [  ]
    und uns allen – verzeihen Sie den Ausdruck – gewisser-
    maßen harmlos gegenüber; Ihr Einfluß, glauben Sie mir,
    kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich war ja
    glückselig, als ich hörte, daß Sie allein der Exekution
    beiwohnen sollten. Diese Anordnung des Kommandan- 
    ten sollte mich treffen, nun aber wende ich sie zu meinen
    Gunsten. Unabgelenkt von falschen Einflüsterungen
    und verächtlichen Blicken – wie sie bei größerer Teilnah-
    me an der Exekution nicht hätten vermieden werden
    können – haben Sie meine Erklärungen angehört, die 
    Maschine gesehen und sind nun im Begriffe, die Exeku-
    tion zu besichtigen. Ihr Urteil steht gewiß schon fest;
    sollten noch kleine Unsicherheiten bestehen, so wird sie
    der Anblick der Exekution beseitigen. Und nun stelle
    ich an Sie die Bitte: helfen Sie mir gegenüber dem Kom- 
    mandanten!“
    Der Reisende ließ ihn nicht weiter reden. „Wie könnte
    ich denn das“, rief er aus, „das ist ganz unmöglich. Ich
    kann Ihnen ebensowenig nützen als ich Ihnen schaden
    kann.“
    
    „Sie können es“, sagte der Offizier. Mit einiger Be-
    fürchtung sah der Reisende, daß der Offizier die Fäuste
    ballte. „Sie können es“, wiederholte der Offizier noch
    dringender. „Ich habe einen Plan, der gelingen muß. Sie
    glauben, Ihr Einfluß genüge nicht. Ich weiß, daß er ge- 
    nügt. Aber zugestanden, daß Sie recht haben, ist es denn
    nicht notwendig, zur

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