Drüberleben
bewegt.
Sieben
I ch laufe durch den langen Gang der Station und versuche, Dinge wiederzuerkennen. Dinge, die mir bekannt vorkommen müssten in meinem Glauben, dass sich jede Psychiatrie und jede Klinik in tausendfacher Ausfertigung wiederholt, wie Fertighäuser, die einfach irgendwo gebaut und vollgestellt werden mit all den Sachen, die individuell sein sollen und doch nur Füllmaterial eines Hauses sind, das genauso auch noch an tausend anderen Orten steht und von außen nicht zu unterscheiden ist von seinen Kopien.
An den Wänden hängen Bilder, die Patienten gemalt haben. Aquarelle und Kreidezeichnungen in bunten Farben und auch ein paar düstere, die Geschichten von Angst und Qual und Hoffnung erzählen. Daneben hängen kleine Schilder, wie man sie auf Ausstellungen sieht, die den Vor- und den gekürzten Nachnamen des Patienten zeigen sowie den Monat und das Jahr der Entstehung der Bilder.
Die Wände sind gelb gestrichen und der Boden aus grauem Linoleum. Es ist alles genauso wie in all den anderen Kliniken auch. Das Gelb der Wände variiert in winzigen Abstufungen, die Bilder sind mal scheinbar wahllose Kopien großer Werke, mal Stillleben und mal– wie hier– Bilder, die von Patienten stammen, der Boden manchmal ein bisschen grauer oder ein bisschen älter, aber im Grunde sehen sie alle gleich aus, die Psychiatrien dieses Landes.
Vor dem Gruppen- und Gemeinschaftsraum treffe ich auf Richard, der intensiv einen Zettel betrachtet, der an der Wand neben dem Raum hängt. Als er mich bemerkt, erschrickt er für einen Augenblick, beruhigt sich aber sofort und strahlt.
» Du bist ja noch da!«
» Natürlich.«
» Das ist nicht so selbstverständlich, Ida.«
Auf meine Frage, warum es nicht so sei, tippt er sich grinsend an die Stirn: » Verrückt, verrückt, verrückt«, und konzentriert sich wieder auf den Zettel.
Dort ist eine Liste zu sehen mit zehn Namen. » Depressionsgruppe« steht über den Namen und eine Uhrzeit und ein Datum. Mein Name steht an siebter Stelle.
» Hey Richard!«
Ich drehe mich unwillkürlich zur Seite. Die Stimme gehört einem Mann um die vierzig.
» Hallo. Bist du neu hier?«, fragt der Mann und betrachtet mich mit einem Blick, den ich nicht einzuschätzen vermag.
» Ja, ich bin heute gekommen«, antworte ich ihm und versuche, seinem Blick standzuhalten.
» Na dann herzlich willkommen. Ich bin Peter.«
» Ich bin Ida.«
» Und, warum bist du hier, Ida?«
Das scheint hier – wie in all den anderen Kliniken – eine Art Begrüßungsritual zu sein. Man begrüßt sich nicht mit der Frage nach dem Befinden, weil die Antwort sowieso immer die gleiche wäre. Im Grunde wäre diese Frage sogar einfach nur zynisch. Weil man aber diese leere Stelle an diesem wichtigen Punkt der ersten Interaktionen irgendwie füllen muss, fragt man eben: » Und, warum bist du hier?«, und erntet in den meisten Fällen nicht einmal erschrockene Gesichter oder fragende Blicke, sondern nur eine Diagnose als Antwort, meistens noch begleitet von einer kurzen Hintergrundinformation, zum Beispiel einem auslösenden Ereignis. All das passiert völlig hemmungslos und ohne jedwede Scham, denn hier ist man unter sich, und hier muss man sich nicht verstecken, zum ersten Mal nicht mehr verstecken, und da kann es ja von mir aus auch jeder wissen, wer welche Macke, welche Diagnose, welchen Schaden davongetragen hat und wie sehr, schließlich sitzen wir doch alle im gleichen Boot, nicht wahr, da kann man doch wohl mal ganz freizügig darüber sprechen, dass man leider so ein klitzekleines bisschen verrückt ist, haha, so ein bisschen, das aber leider gereicht hat, um groß genug zu werden, dass es aus den Kinderschuhen herausgewachsen ist und jetzt den Erziehungsberechtigten des eigenen Verstandes spielt, dieses kleine Arschloch, und sich aufführt und einen ganz irre macht, und deshalb ist man jetzt hier, in diesem Boot, hallo Leute.
Peter sieht mich abwartend an, und ich presse mühsam die Antwort hervor.
Er nickt bestätigend und sagt: » Also wie alle.«
» Ja, vermutlich.«
Er überlegt einen Moment und fragt dann: » Hat dir jemand erklärt, wie das hier abläuft?«
» Ja, Frau Gräfling.«
» Na dann lass uns mal reingehen, Ida.« Er drückt die Klinke zum Gruppenraum hinunter, und wir betreten den Raum, in dem sich außer uns noch drei andere Patienten befinden, die gerade die Tische decken.
Langsam füllt sich der Raum mit Menschen, die sich setzen und ihre Teller mit Essen füllen, das in großen
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