Drüberleben
Schalen dort bereitsteht. Ich versuche, ein paar Bissen zu essen, aber jedes Blatt Spinat und jede Gabel Kartoffelpüree fällt in meinen Bauch wie ein Fremdkörper, den mein Magen wieder herauswürgen will. Nach ein paar Minuten gebe ich auf und lege das Besteck zur Seite, stehe auf und verlasse den Raum. Auf mir haften Augenpaare, die mich betrachten wie mein Magen das Essen zuvor: wie einen Fremdkörper, der hinuntergewürgt wird.
In meinem Zimmer setze ich mich auf mein Bett und zähle sehr oft von zehn bis eins. Ich zähle keine Sekunden, sondern Gedankenstriche. Ich zähle, weil ich nicht weiß, was ich denken soll. Was ich denken kann und was ich denken muss. Ich zähle, weil Zahlen so viel einfacher zu buchstabieren sind als Gefühle, die sich immer auf eine Art breitmachen, als hätte jemand sie darum gebeten, als hätte jemand, also ich, ihrer selbstverständlichen Präsenz eine Einladungskarte geschickt, auf der steht, dass sie immer willkommen sind, dass sie vorbeikommen können, wann immer sie wollen. Gefühle, das sind diese Dauergäste, die man nicht mehr loswird, die sich breitmachen in allen Räumen des Verstandes und Botschaften wie Leuchtraketen abfeuern, auf dass ja nie jemand sie übersehe.
Ich zähle so oft, dass mir der Sinn der Zahlen abhandenkommt. Irgendwann werde ich müde, decke mich schließlich zu und falle in einen unruhigen Schlaf. Ich träume von dieser Sache, gegen die kein Zählen und kein Kämpfen wirkt, gegen die die größten Mauern keinen Schutz bieten. Ich träume von dieser Nacht, von dieser sich immer wiederholenden Nacht, die sich in die Träume frisst und kleine Löcher in meinem Verstand hinterlassen hat wie Holzwürmer, deren Löcher man von Weitem gar nicht wahrnimmt, deren Schäden aber noch das massivste Holz früher oder später einfach zusammenfallen lassen. Ich träume in Möbiusschleifen, in eingetretenen Pfaden, in Wiederholungen.
Irgendwann wache ich mit einem plötzlichen Schrecken auf und finde mich zusammengekauert am Fußende des Bettes. Ich weine ein bisschen, weil ich glaube, weinen zu müssen, und ich stehe auf, weil ich glaube, dass das helfen könnte. Ich sehe auf die Uhr, und ich sehe auf die wenigen Minuten, die ich geschlafen habe, und ich sehe auf mein klopfendes Herz, das sich nicht beruhigen lassen will durch die Schritte, die ich im Kreis gehe. Vielleicht, denke ich, ist es an der Zeit auszupacken.
Acht
I sabell kommt ins Zimmer, als ich gerade meine Sachen auspacke, setzt sich stumm aufs Bett und sieht mir zu. Irgendwann drehe ich mich um, gehe ein paar Schritte auf sie zu, halte ihr die Hand entgegen und sage: » Ida Schaumann, Depressionen und Angststörung, angenehm.«
Sie lacht. » Isabell Stern, ebenfalls Depressionen und Angststörung, angenehm.«
Wir schütteln uns die Hände, und ich setze mich auf mein Bett und zupfe verlegen am Bezug. Isabell legt sich auf ihr Bett und sieht zur Decke hinauf. Wir schweigen beide.
Nach einer Weile richtet sie sich auf und fragt: » Bist du zum ersten Mal in so einer Klinik?«
Ich schüttele den Kopf.
» Fühlt sich trotzdem komisch an, oder? Man sieht diese ganzen Leute, und bei manchen denkt man, dass man sich das Ganze genau so vorgestellt hat, und bei manchen fragt man sich irgendwie, was die eigentlich hier verloren haben. Und am meisten fragt man sich selbst, warum man eigentlich hier gelandet ist.«
» Warum bist du hier?«, frage ich sie vorsichtig.
» Ach.« Sie richtet sich auf. » Ich dachte immer, dass alles ganz in Ordnung wäre. Ich dachte, dass es in Ordnung wäre, dass ich immer weniger rausgegangen bin und dass ich ständig geheult habe. Irgendwie fand ich das damals alles gar nicht so schlimm. Ich nahm an, dass das eben eine Phase ist, etwas, das sich mit der Zeit wieder legen würde. Aber als ich die Abgabefristen für die Prüfungen nicht einhalten konnte, bin ich zum Arzt gegangen, damit er mir etwas aufschreibt. Dann unterhielten wir uns, und er fragte, ob ich noch normal esse und normal viel schlafe, und als ich ihm sagte, dass normal mittlerweile für mich bedeutete, so gut wie nichts mehr zu essen und nur noch zu schlafen, antwortete er, dass es dann wohl an der Zeit sei, dass ich die andere Normalitätwiederfände.«
» Und dann bist du gleich hierhergekommen?«
Sie schüttelt den Kopf. » Nein, erst mal verschrieb er mir Tabletten und empfahl mir, zu einem Psychiater zu gehen, damit ich mit dem besprechen kann, welche Therapie sinnvoll wäre. Und er hat mir ein
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