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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Tatsächlichen liege.
    Zielsicher steuert sie nun auf das Zimmer zwei Türen weiter zu und bleibt dort stehen. » Hier wohnen Hermann und Thorsten«, erklärt sie. » Die beiden wirst du nur selten sehen, weil sie meistens in ihrem Zimmer sind und sich nicht trauen herauszukommen. Was du aber über sie wissen solltest: Sie haben einen unermesslich großen Vorrat an Zigaretten da drinnen, und wenn du mal eine brauchst, dann findest du hier bestimmt jemanden, der dir weiterhelfen kann«, flüstert sie und fügt hinzu: » Das einzige Problem: Sie erwarten dafür immer eine Gegenleistung.«
    Ich sehe sie skeptisch an und frage mich, was für eine Gegenleistung zwei Männer mit einem Haufen Zigaretten im Schrank wohl erwarten würden.
    Als hätte Isabell meine Gedanken gelesen, sagt sie: » Sie wollen dafür meistens Süßigkeiten. Die kriegen sie nämlich nicht mehr, weil die Gräfin angeordnet hat, dass die beiden abnehmen müssen und deshalb nichts mehr zu essen bekommen, das in irgendeiner Weise Zucker enthält oder auch nur danach aussieht. Die beiden haben sich schon an jeder erdenklichen Stelle darüber beschwert, aber das Problem ist: Wenn man sie ansieht, muss man der Gräfin einfach zustimmen.«
    An der nächsten Tür klopft sie kurz und wartet. Es regt sich nichts im Zimmer, und Isabell sagt enttäuscht: » Schade, die beiden hätte ich dir wirklich gerne vorgestellt. Nun ja, dann erzähle ich es dir jetzt, und du wirst sie ja später noch kennenlernen.«
    Ich nicke und fühle mich einem gefügigen Tier ähnlich, obschon ich so bald die Lust verloren habe, Geschichten über diese mir noch so fremden Menschen zu hören, wie ich die Lust verloren habe, mir all ihre Namen zu merken– im Grunde bin ich froh, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum Gelegenheit hatte, jemanden hier näher kennenzulernen. Zu anstrengend erscheint mir das sich in jeder Klinik wiederholende Kennenlernen der Patienten, das dem Prinzip des immer gleichen Inventars der Fertighäuser nicht unähnlich ist, und zu anstrengend erscheint mir in diesem Moment beinahe alles, was außerhalb meines Bettes stattfindet.
    Isabell bemerkt von alldem nichts und sieht nur mein nimmermüdes Nicken. » Also, hier schlafen Lisa und Birgit. Die beiden sind schon ewig hier«, fährt sie fort. » Ich weiß gar nicht genau, wie lange, und die beiden äußern sich dazu auch nicht, aber jeder sagt, dass sie schon da waren, als er oder sie hier angekommen ist. Also muss es wohl schon ziemlich lange sein.«
    » Kann man denn hier so lange bleiben?«, frage ich, plötzlich besorgt, dass dies kein Ort zu sein scheint, den ich so schnell wieder verlassen werde. Acht Wochen hat Kropka gesagt, und obschon ich weiß, dass ein Klinikaufenthalt sich manchmal über mehrere Monate hinwegstrecken kann, so hoffe ich auch dieses Mal wieder, dass meine Anwesenheit nur von kurzer Dauer sein wird.
    » Ein ehemaliger Patient, Lars, war zum Beispiel sechs Monate hier. Also ja, ich denke, man kann hier ganz schön lange bleiben.«
    » Und wenn man das nicht will?«
    » Dann entlässt man sich selbst. Du bist freiwillig gekommen, also kannst du auch freiwillig wieder gehen. Das ist hier nicht die Geschlossene.«
    Ich frage mich, wie freiwillig wir alle hier sind. Und ob der Begriff » freiwillig« hier noch seiner Bedeutung nachkommt. Ich erinnere mich an all die Wochen, in denen ich nicht das Haus verlassen habe, weil mir alles Angst einjagte, das weiter als drei Schritte von meinem Bett entfernt lag. Ich erinnere mich an die Trümmer eines Lebens, das im besten Fall noch das Aushalten einiger Unerträglichkeiten geworden war. Ich erinnere mich an diesen Käfig aus Angst und Lähmung, dessen Boden übersät war mit Erinnerungen an die Zeiten, in denen ich noch nicht darüber nachdenken musste, ob ich es heute wohl endlich schaffen würde aufzustehen, mich zu duschen und anzuziehen.
    Als wir vor der gegenüberliegenden Tür stehen, klopft Isabell erneut, und dieses Mal erklingt ein » Ja?«, und wir treten ein.
    Auf dem Bett an der rechten Seite des Zimmers sitzt ein hageres Mädchen und sieht uns neugierig an. Ich erkenne sie als das Mädchen wieder, das Richard einige Stunden zuvor von mir weggezogen hat.
    » Ah, du bringst den Neuzugang mit«, sagt sie zu Isabell gewandt und gibt mir dann die Hand. Ihr Name ist Nina, und sie fragt mich– wie üblich–, warum ich hier sei. Ich wiederhole mich, denke ich, wie sich alles wiederholt. Die Fragen, die Antworten, die Gleichförmigkeit

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