Drüberleben
Attest ausgestellt für die verpassten Prüfungen und mich krankgeschrieben. Ich musste aber sehr lange auf einen Termin bei dem Psychiater warten. Du kennst das ja bestimmt.«
Ich nicke.
» Jedenfalls hatte ich dann vor zwei Monaten endlich den Termin, und der Psychiater unterhielt sich ziemlich lange mit mir und fand dann, dass es wohl besser sei, wenn ich intensiver behandelt werden würde.«
Ich schweige und denke an all die leeren Monate, in denen ich auf Termine, auf freie Plätze, auf Gespräche gewartet habe. Diese Monate, die sich nicht füllen ließen, weil sie immer nur ein Dazwischen waren, eingepfercht zwischen Lethargie und einem Fixpunkt, der irgendetwas versprach, von dem ich selbst nie so genau wusste, was. Ich denke an die Unmöglichkeit jedweder Planungen, weil jeder Termin alles ändern konnte, weil eine Aufnahme jederzeit möglich war und die Stimmen am Telefon immer nur wiederholten, dass sie nur einen ungefähren Termin nennen könnten, es tue ihnen leid, aber.
In diesen Zeiten ließ sich nichts voraussehen, nichts zusagen. Jederzeit konnte das Telefon klingeln, und jederzeit konnte eine Stimme am anderen Ende sagen, dass es jetzt so weit sei, man könne jetzt die Koffer packen, es sei jetzt ein Platz frei. In diesen Zeiten saß ich zu Hause und wartete auf ein Klingeln, ein Zeichen, eine Nachricht, und nichts anderes ließ sich tun als warten, am Fenster sitzen, fernsehen, schlafen, warten, aufstehen, am Fenster sitzen, fernsehen, schlafen, warten, warten, warten.
» Ich empfand das alles als so unfassbar absurd«, unterbricht Isabell plötzlich die Stille und schüttelt den Kopf. » Ich dachte die ganze Zeit, dass er das nicht ernst meinte. Dass er nicht wirklich glauben konnte, dass ich in so etwas gehöre. Ich meine, in so etwas, in so eine Klapse .« Sie sieht mich bestürzt an und schüttelt weiter den Kopf, als würden Erklärungen aus ihm herausfallen, wie Zettelchen aus einer Lostrommel, wenn sie nur lang genug schütteln würde.
Schließlich frage ich: » Und dann? Warum bist du dann trotzdem hierhergekommen?«
Ihre Stimme wird leiser, und fast flüstert sie: » Weil ich musste.«
Ich traue mich nicht, sie zu fragen, welches Müssen sie meint, ob sie von einer Notwendigkeit spricht, die außerhalb der offensichtlichen liegt. Stattdessen sage ich: » Ich kenne das. Diese Gedanken, dass man an so einem Ort nichts verloren hat. Das war bei mir beim ersten Mal auch so. Eigentlich war es immer so.«
Sie nickt unmerklich.
Dann lacht sie– wie durch eine plötzliche Eingebung überrascht– mit einem Mal auf und grinst. » Hat dir eigentlich schon jemand die Station gezeigt, Ida?«, fragt sie, und ich erzähle ihr von der Begegnung mit Frau Gräfling und ahme ihren Tonfall nach, als sie mir einschärfte, dass es doch sicher keinerlei Probleme mehr geben würde, » oder?«.
Isabell lacht wieder und erzählt mir von ihrem ersten Zusammentreffen mit der Gräfin. » Am Ende hat sie mir tief in die Augen gesehen und gesagt: Ich rieche es, wenn jemand etwas vorhat, das mir nicht gefällt. Und Sie riechen mir sehr danach.« Sie wirft ihre langen, schwarz gefärbten Haare in den Nacken und grinst.
Ich frage sie, was sie darauf geantwortet habe, und Isabell zuckt mit den Schultern. » Vielleicht hat sie ja Recht gehabt«, antwortet sie mit einem Male sehr ernst.
Diese plötzliche Wandlung hat eine zutiefst beunruhigende Wirkung auf mich. Isabells Augen haben einen feindlichen Ausdruck angenommen, und sie sieht mich an, als sei ich der Mittelpunkt eines fremden Universums, das es zu bekämpfen gilt. Ich werde nervös und suche nach Worten.
Schließlich frage ich: » Und? Hat sie?«
» Hat sie was?«
» Hat sie Recht gehabt? Die Gräfin?«
» Keine Ahnung. Wer weiß.« Sie sieht mich mit leeren Augen an. » Lass uns gehen, bevor die Gruppen anfangen.«
Glücklich über diesen Vorschlag, der für das Erste die Sackgasse, in die unser Gespräch unweigerlich zu führen scheint, umgeht, springe ich vom Bett auf, und wir verlassen gemeinsam das Zimmer.
Auf dem Gang nimmt Isabells Gesicht wieder einen anderen Ausdruck an, den ich in diesem Moment nicht zuzuordnen weiß. Ich lerne bald, dass sie in der Lage ist, ihre Stimmungen wie Kleidung zu wechseln, und nur Winzig-, beinahe Unsichtbarkeiten in der Art, wie sie lacht oder ein Wort betont, verraten, wie es ihr tatsächlich geht– ohne dass ich jemals mit Sicherheit sagen kann, ob ich mit meiner Einschätzung im Bereich des
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