Drüberleben
dem ich die Kassiererin anschrie, sie solle sich gefälligst ins Knie ficken mit ihrer scheiß Langsamkeit.
Der Moment, in dem ich mit der Faust gegen den Spiegel der Umkleidekabine schlug, weil ich das Gesicht, das ich sah, genauso abstreifen wollte wie das Kleid, das zu eng war, und es einfach nicht schaffte.
Der Moment, in dem ich meine Mutter fragte, warum sie so etwas wie mich nur hatte zeugen können.
» Ich glaube, da gab es keinen Moment, der mir das in aller Deutlichkeit gezeigt hätte. Er war einfach schon immer da, dieser Gedanke, dass es einfach besser wäre, nicht ich zu sein. Oder unsichtbar zu sein. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es mal die kleine Hoffnung, unsichtbar zu sei. Ich saß an einer U-Bahn-Haltestelle und musste lange auf den Zug warten. Es kamen viele Menschen an mir vorbei, es war später Nachmittag, und deshalb war der Bahnsteig recht überfüllt. Aber keiner hat mich angesehen. Kein Einziger. Und plötzlich dachte ich: Vielleicht bin ich jetzt endlich unsichtbar geworden. Aber als mich jemand anrempelte und sich entschuldigte, da wusste ich, dass es wieder nicht geklappt hatte.«
Peter seufzt und sieht Isabell an, die mich unumwunden anstarrt. Es ist ein kaltes, ein grausames Starren, das den Eindruck erweckt, als hätte ich ihr mit dem Gesagten etwas weggenommen.
» Tja«, sagt sie schließlich, » wären wir alle unsichtbar– und ich finde, dass wir das durchaus auf eine gewisse Art und Weise sind–, hätte die Pharmaindustrie sehr viel weniger Freude an uns. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles lächerlich ist. Als wüsste man erst in dem Moment, dass man verrückt ist, wenn man seine erste Panikattacke hat. Oder erst dann, wenn man sich wünscht, unsichtbar zu sein. Ich glaube, wenn jeder mal ganz ehrlich zu sich ist, haben wir alle diesen leisen Verdacht schon sehr viel früher gehabt. Egal, wie sehr wir auch das Gegenteil behaupten: Verrückt wird man nicht plötzlich, verrückt wird man mit den Tagen, mit den Augenblicken, mit all den hinuntergeschluckten Taten und Worten, die man besser hätte sagen sollen, sie dann aber doch irgendwie verdaut hat, auch, wenn bei jedem Mal ein wenig mehr davon im Körper geblieben ist, bis wir den ganzen Schmutz unserer Gedanken irgendwann in einem Schwall erbrochen haben. Das ist meine Meinung.«
» Ich glaube auch nicht, dass es unbedingt immer so deutlich sein muss. Bei mir hat es Jahre gedauert«, wirft Peter ein.
» Und in all den Jahren hast du nicht einmal gedacht, dass etwas nicht stimmt, ja?«
Er schweigt.
Isabell nickt und erhebt sich. » Schönen Tag noch, und immer daran denken: Einatmen, ausatmen.«
» Du teilst dir ein Zimmer mit ihr, oder?«
» Ja, aber wir haben uns noch nicht besonders gut kennengelernt.«
» Ich wäre da auch ein bisschen vorsichtig mit dem Kennenlernen. Sie ist ein wenig… schwierig im Umgang.« Peter sieht mich nachdenklich an.
» Bestimmt nicht schwieriger als ich.«
» Ida, wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Kümmere dich hier um dich. Nur um dich. Was die anderen machen und sagen, ist egal. Kümmere dich nicht mehr als nötig um ihre Angelegenheiten. Du hast genug mit dir selbst zu tun.«
» Wie gut, dass ich schon groß bin und auf mich selbst aufpassen kann«, sage ich, und die Genervtheit ob seines väterlichen Ratschlags lässt mir kaum die Möglichkeit, mich einfach nur zu bedanken. Einfach mal danke sagen. Einfach mal nett sein. Einfach mal den Mund halten, nicken und Danke und Knicks. Einfach mal ein Mädchen sein, das sich benehmen kann. Einfach mal nicht ständig 180 fahren, gegen die Worte aller anderen, gegen alles, was nicht wehtut, gegen jeden Ratschlag dieser Welt.
» Danke«, füge ich schnell hinzu.
Er nickt und trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. Dann lächelt er plötzlich und legt mir eine Hand auf die Schulter.
» Das wird bestimmt alles besser hier, Ida.«
Nachdem er den Raum verlassen hat, versuche ich mich wieder auf den Fragebogen zu konzentrieren. Hunderte Fragen sind dort aufgelistet, von denen ich die meisten mit einer Einschätzung von eins (gar nicht) bis fünf (sehr, immer) beantworten soll.
Haben Sie schon einmal einen Raub begangen? Haben Sie schon einmal Stimmen gehört, die andere nicht wahrgenommen haben? Sind Sie dauernd müde? Haben Sie manchmal das Gefühl verfolgt zu werden? Würden Sie sich als spirituell bezeichnen? Glauben Sie, dass Sie Kräfte besitzen, die andere Menschen nicht haben? Haben Sie schon einmal jemandem
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