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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Gewalt angetan? Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen? Leben Sie in einer Partnerschaft? Haben Sie Kinder? Stören Sie Geräusche, die andere nicht stören? Haben Sie schon einmal Gebrauch von einer Schusswaffe gemacht? Fühlen Sie sich zornig? Glauben Sie, dass Sie eigentlich jemand ganz anderes sind? Fällt es Ihnen schwer, morgens aufzustehen? Treiben Sie Sport? Wie ist Ihre Sexualität? Wie heißen Sie? Welchen Beruf üben Sie zurzeit aus? Wie ist Ihr Schlafverhalten? Nehmen Sie regelmäßig Tabletten ein? Wenn ja, welche? Nehmen Sie Drogen? Gehören Sie einer Sekte oder einer religiösen Gemeinschaft an? Wie fühlen Sie sich unter Menschen? Glauben Sie, dass Ihre Gedanken von einer übernatürlichen Macht gelenkt werden? Empfinden Sie noch Freude?
    Ich lächle– ein Lächeln, das einer Geste gleicht, die den Raum füllt, wenn etwas Unaussprechliches zwischen zwei Sätzen und einem Blatt stehenbleibt.

LIEGEN

Das Unaussprechliche
    M eine Kindheit ist die Kindheit eines Mädchens, einer Frau, über deren Verlauf man nicht, über deren Bewertung man aber sehr wohl streiten kann. Es ist die Kindheit, wie sie Millionen von Malen passiert ist, wie sie aufgeschrieben wurde in tausenden Worten, in tausenden von Büchern und Erzählungen, deren Interpretationen sich wiederholen wie ihr Inhalt, wie ihre Aussage, wie der Wunsch nach einer Schublade, in die sie hineinpassen. Es ist die Kindheit eines Menschen, der in den Achtzigerjahren des vorangegangenen Jahrhunderts geboren wurde, dessen erste greifbare Erinnerungen sich in den Neunzigerjahren und dessen erste ernst zu nehmende Schritte sich erst nach der Jahrtausendwende ereigneten. Es ist die Kindheit eines Menschen, der in der Mittelschicht aufgewachsen ist, dem es an nichts fehlte, der immer genügend Kleidung, Nahrung und Möglichkeiten hatte und dessen Eltern sich weder trennten noch scheiden ließen, noch es jemals auch nur in Erwägung zogen, derlei Schritte zu gehen. Es ist eine Kindheit der Kleinstadt, der Langeweile, der grenzenlosen Lethargie des Wartens auf den Moment, in dem die Flucht aus dem Vorort das Vorwort zur eigentlichen Geschichte wird, dieser Geschichte, die sich das Kind schon erzählte, als es noch Bier an Bushaltestellen trank und seinen ersten Joint rauchte und darauf hoffte, das alles möge schnell vorübergehen, damit das richtige, das echte, das Leben an sich losgehen konnte.
    In dieser kleinen Stadt, in diesem Vorort einer viel größeren Stadt, begann das Unaussprechliche sich mit den Jahren zwischen die Sätze und zwischen die Zeilen zu drängen, und es wirkte dort so deplatziert, so unangenehm raumfordernd, wie man es nur vor einem sehr dicken Menschen kennt, der sich auf den Platz zwischen einem selbst und dem nächsten Passagier in einem Flugzeug setzt, dessen Route gerade so lange ist, dass man genügend Zeit hat, diesen Menschen verachten, gar hassen zu lernen. Das Unaussprechliche nahm zum ersten Mal in meinem Leben Platz, als ich vierzehn war, und machte es sich auf diesem Langstreckenflug so gemütlich, wie es nur konnte. Das Unaussprechliche setzte sich zunächst sehr leise zwischen mich und den Rest der Welt und gab sich alle Mühe, seine Fettleibigkeit zu kaschieren, indem es die Luft anhielt und schwieg. Es griff nicht nach Sätzen, nach Worten oder Gesten, es schwieg einfach und blieb still sitzen und sah aus dem Fenster während die Jahre vorbeirauschten.
    Bis zu dieser einen Nacht. Ich war gerade achtzehn geworden und sah einen langweiligen Film im Fernsehen. Die Nacht war lau, es war Mai und schon sehr warm. Ich war zu Hause und Zuhause, das bedeutete zwei Brüder und einen Vater und eine Mutter und Langeweile und Einsamkeit. Meine Brüder, die beide älter waren als ich, hatten sich schon früh darauf verständigt, lieber unter sich zu bleiben, Mädchen zu treffen oder Bier zu trinken– in jedem Fall aber ihre Zeit nicht mit einer kleinen Schwester zu vergeuden, die sie weder besonders gut kannten noch besonders mochten. Wir grüßten uns auf dem Schulhof wie entfernte Bekannte, und sie vermieden es, sich mit mir sehen zu lassen. Ohnehin waren die beiden in höheren Klassen als ich, und der älteste, Daniel, der gerade sein Abitur machte, würde bald die Stadt verlassen. Uns verband also nicht mehr, als die zufällig selben Eltern– was im Grunde eine Menge sein könnte, sich aber in der Realität als nicht weiter beachtenswert herausstellte. Ich war gerade in der zehnten Klasse des Gymnasiums und

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