Drüberleben
sehnte ungeduldig die Sommerferien herbei, nach deren Ende ich endlich in die Oberstufe kommen und somit, glaubte ich, einen weiteren Schritt in Richtung Verlassen der Stadt tun würde.
An diesem Abend saß ich also vor dem Fernseher und wartete darauf, müde zu werden und schlafen zu können. Um kurz nach zweiundzwanzig Uhr klingelte plötzlich mein Telefon, und meine Freundin Julia teilte mir mit, dass eine spontane Party bei einem Bekannten anstehen würde. Sie bat mich, sie zu begleiten. Ich sagte– froh über diese unerwartete Ablenkung– sofort zu, und sie nannte mir den Ort, an dem sie auf mich warten würde.
Um kurz vor halb elf verließ ich das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zum Treffpunkt. Ich brauchte nicht einmal zehn Minuten dorthin, und so stand ich eine Weile an mein Fahrrad angelehnt, rauchte und wartete auf Julias Eintreffen. Ich erschrak, als ein Auto neben mir hupte und schließlich hielt. Die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und ich erkannte Julias Gesicht auf dem Beifahrersitz.
Sie sagte: » Ida, hey, hallo. Wir fahren mit dem Auto, das geht schneller. Robert kommt auch mit!«
Julias Freund Robert stieg aus dem Wagen und half mir, mein Fahrrad im Kofferraum zu verstauen. Ich setzte mich auf die Rückbank, Robert stieg wieder vorne ein, und wir fuhren über die Landstraße in das nächstgelegene Dorf.
Wir tranken und feierten ausgelassen. Irgendwann sah ich erschrocken auf die Uhr und stellte fest, dass es längst Zeit war aufzubrechen. Ich hatte Julia seit einer Weile nicht mehr gesehen und vermutete sie bei Robert, den ich jedoch allein im Garten vorfand, wo er missmutig aus einem Glas Cola trank.
» Wo ist Julia?«, fragte ich, und er erwiderte, dass er das– zum Teufel– auch nicht wisse.
» Vermutlich mit diesem Arschloch unterwegs«, fügte er hinzu und nippte wieder an seiner Cola.
» Mit welchem Arschloch denn?«, fragte ich, und er erzählte mir von einem Streit, den die beiden kurz zuvor gehabt hatten.
» Ich habe ihr tausendmal gesagt, dass sie die Finger von ihm lassen soll. Sie sagt natürlich, dass die beiden nur Freunde sind, aber ich traue diesem Kerl nicht«, stieß er wütend hervor und spuckte auf den Boden. » Ich weiß genau, was der vorhat, aber sie will das natürlich nicht sehen. Oder vielleicht will sie es doch sehen und genießt es sogar.«
Ich drehte mich abrupt um, lief ins Haus zurück und durchkämmte alle Räume, doch Julia war nirgends zu finden. Schließlich bat ich Robert frustriert, mich nach Hause zu fahren. Wir verließen ohne einen Abschied das Grundstück.
Schweigend fuhren wir die Landstraße entlang, als wir plötzlich in der Ferne Flammen und Blaulicht auf der Straße sahen. Je näher wir kamen, desto unruhiger wurde ich, und Robert kommentierte: » Mann, immer diese Idioten, die zu schnell fahren.« Ich nickte nur stumm, und als wir an dem beinahe völlig ausgebrannten Autowrack vorbeifuhren, hielt ich für einen Moment die Luft an.
Die Tage nach Julias Beerdigung verbrachte ich damit, auf sie zu warten. Ich wartete am Schultor darauf, dass sie wie jeden Morgen zu spät kam und wir in großer Eile die Treppen in unsere Klasse hinaufrannten. Ich wartete darauf, dass das Telefon klingelte und sie mir von ihren kläglichen Versuchen erzählte, ihrem Vater das Trinken und ihrer Mutter das Weinen zu verbieten. Ich wartete darauf, dass endlich jemand kam und mir erzählte, dass das alles nur ein Scherz gewesen sei. Es kam niemand. Niemand rief an, und niemand sagte ein Wort. Ich saß stumm auf meinem Bett und wartete auf den Schmerz, auf das Nachbeben, auf irgendetwas, von dem ich annahm, dass es passieren müsste. Und eines Nachts kam es. Es war kein Schmerz, wie ich ihn erwartet, kein Weinen, wie ich es vermutet hatte. Das Unaussprechliche kam auf leisen Sohlen, schlich sich in mein Bett und deckte mich zu.
All die Jahre, in denen ich nur seine Existenz vermutet, sie aber nie bewiesen gesehen hatte, all die Jahre in denen ich zwar manchmal gespürt hatte, dass es sein könnte, dass da wirklich nichts mehr kommen könnte, manifestierten sich in dieser Nacht zu einem Satz, dem erst das Entsetzen darüber, den einzigen Menschen, dem ich vertraut hatte, zu verlieren, die Worte gegeben hatte.
Das Unaussprechliche flüsterte sich fortan durch die Tage und durch die Nächte. Es sprach von all diesen Dingen, und hätte ich sie aufgeschrieben, es wären Zeilen voller Abscheu gewesen. Zeilen darüber, wie sinnlos es war, sich auf etwas zu verlassen.
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