Drüberleben
Spaß auf unserem kleinen Trip!«
» Ich frage mich, ob du auch mal zwei Minuten den Mund halten kannst«, sagt Peter jetzt zu Florian gewandt und starrt ihn feindselig an.
Die Tür öffnet sich erneut, und Nina und Isabell treten ein und setzen sich zu uns.
» Haben wir die neue Selbsthilfegruppe für Idioten verpasst?«, fragt Nina und gibt Florian einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. Er errötet und blickt verlegen zur Seite.
» Na«, spricht mich Isabell an, » anhand dieser beiden Prachtexemplare kann man deutlich erkennen, wie gut es ist, dass es diese Einrichtung gibt.« Nina und Isabell lachen, und ich sehe zu Peter hinüber, dem es jetzt scheinbar leidtut, Florian bloßgestellt zu haben.
» Ich dachte, ihr beiden seid das beste Beispiel dafür, wie wenig Therapie in manchen Fällen ausrichten kann«, fährt er Isabell an.
» Du musst es ja wissen, Peter, so als Urgestein der Psychiatriegeschichte«, antwortet Nina, und alle vier starren einen Moment aneinander vorbei, als sei nun alles gesagt.
Ein plötzliches Gift liegt in der Luft, ein schweres, lautes Gift aus Worten.
Peter wendet sich schließlich schweigend seiner Tasse zu und beginnt, in seinem Kaffee zu rühren. Der Löffel erzeugt ein Geräusch, das wie ein regelmäßiger Glockenschlag klingt, der dem Gesagten einen eigenwilligen Rhythmus verleiht. Dann fragt er: » Warum bist du eigentlich hier, Ida? Wenn ich fragen darf?«
Acht Augen starren auf meinen Mund, auf meine Nase, in mein Gesicht und warten. Warten auf die Antwort, die ich selbst nicht weiß. Warum ist Ida Schaumann, vierundzwanzig Jahre alt, nicht in der Lage, ein Leben zu führen, das » leben« standhält. Warum steht auf Idas Körper überall in Zaubertinte geschrieben: Vorsicht, fragil. Und wieso kann überhaupt niemand die Zaubertinte lesen, außer mir? Wer soll das beantworten, wenn nicht einmal ich alle Variablen zu einem richtigen Lösungsweg zusammenfügen kann? Wenn alles zu verschwimmen droht, sobald jemand versucht, die richtige Antwort zu geben? Wenn die Antwort immer nur eine Diagnose sein kann, um das Unerklärliche zu Worten zu machen, die zwar ein Nicken, eine Ahnung von Verständnis hervorrufen, aber niemals das fassen können, was hinter den Worten liegt? Wenn eine Diagnose zwar bedeutet » Panikstörung« oder » Depression«, aber doch jede Panik anders ist, jede Depression sich in unzähligen Schattierungen von der anderen unterscheidet? Meine Depression ist nicht die, die Peter hat, wenn er davon erzählt, wie müde und erschöpft er ist. Meine Angst ist nicht Ninas Angst, ist nicht Florians Angst, ist überhaupt niemandes Angst, außer die meine.
» Wegen des bisschen Lebens«, antworte ich schnell, weil die Stille wie Brandbeschleuniger ist, dessen Dosierung erhöht wird, je länger sie währt: Sie zündet alle Worte an, die ihr folgen, um sie heller und deutlicher erscheinen zu lassen, als sie eigentlich sind.
» Na, also irgendwie wie bei allen«, findet Peter, und ich bereue schon, geantwortet zu haben, als Isabell sagt: » Sagt mal, was mich wirklich interessieren würde: Gab es bei euch eigentlich einen Moment, an dem ihr gewusst habt, dass ihr jetzt völlig durchdreht? Dass es jetzt wirklich mit eurem Verstand vorbei ist? Erinnert ihr euch an so etwas, oder gab es den nur bei mir?«
» Ich bin raus. Ich bin eingewiesen worden, das zählt nicht«, antwortet Florian schnell und lacht. Die anderen schweigen.
» Kommt schon, so etwas hat es doch gegeben bei euch?«, fragt Isabell nach, die scheinbar noch nicht aufgegeben hat, Mitstreiter zu finden, die aus ihrem individuellen Gefühl eines der Gemeinschaftlichkeit machen, eines, das sie teilen und verteilen kann, damit es in den Nächten auch einmal in anderen Betten liegen kann, als immer nur auf ihrem Kopf, der dann nicht mehr schlafen will.
» Ich habe es gemerkt, weil ich ständig dieses Herzrasen hatte und keiner erklären konnte, woran das liegt. EKG , Ultraschall, alles war ohne Befund. Der Arzt hatte schon von Anfang an so einen Verdacht, aber ich habe das alles abgewehrt. Bei mir nicht, dachte ich, so etwas haben doch nur Psychos aus dem Fernsehen, die immer heulend in die Kamera schauen mit ihren Betroffenheitsfressen, die sie permanent zur Schau stellen. Aber dann gab es diesen einen Morgen, das weiß ich noch ganz genau, da stand ich in der Küche und habe an die Präsentation gedacht, die ich halten sollte an dem Tag, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mein Herz sich
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