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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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sich handelt. Ich habe Isabells Namen nicht genannt.
    » Ich wiederhole die Frage noch einmal: Wie geht es Ihnen?«, fragt Frau Wängler erneut.
    » Nicht gut. Mir kommt alles sinnlos vor. Was für ein hübscher Satz: Mir kommt alles sinnlos vor. Wie hübsch selbstmitleidig. Aber gut, es entspricht trotzdem der Wahrheit. Ich hatte einen Traum, einen furchtbaren Traum, und schleiche seitdem über die Gänge, als hätte ich das Gefühl für die richtige Balance zwischen Erdanziehung und Schwerelosigkeit verloren. Ich habe ständig das Gefühl, mich festhalten zu müssen. Ich weiß nur nicht, ob ich mich festhalten muss aus Angst zu fallen oder aus Angst davonzuwehen.«
    » Diese Empfindungen können eine Nebenwirkung der Medikamente sein und sind zunächst nicht besorgniserregend. Was mich jedoch interessiert: Wovon haben Sie geträumt?«
    Ich druckse eine Weile herum und erzähle ihr dann von dem Traum. Ich erzähle ihr von Julias Griff und den Schreien und dem Lenkrad, das plötzlich ein Körperteil war. Ich erzähle stockend, und am Ende stehen mir wieder Tränen in den Augen, die kurz darauf auf meine Knie tropfen trotz des ungelenken Versuchs, sie davon abzuhalten, indem ich ein Taschentuch vor die Augen presse.
    » Weinen Sie ruhig«, bemerkt Frau Wängler sinnig und beendet mit diesen Worten den Tränenfluss abrupt.
    » Das ganze Heulen hat auch nichts gebracht, Frau Wängler. Ich heule seit sechs Jahren. Ich heule beim Abwaschen, unter der Dusche und beim Sex. Ich heule willkürlich und stoßartig und wie ein Kind, das nicht genug vom Weinen kriegen kann. Ich will keine Tränen mehr und keinen Unfall, und ich will keine Psychiatrie mehr und niemanden, der mir sagt, dass das alles schon in Ordnung ist und ich es rauslassen soll.«
    » Das scheint aber dem zu widersprechen, was Sie einmal Frau Gräfling gegenüber geäußert haben. Da sagten Sie, dass niemand versteht, warum Sie nicht, ich zitiere, darüber hinwegkommen, und dass die Menschheit im Allgemeinen über weitaus mehr Dinge einmal nicht hinwegkommen sollte«, antwortet Frau Wängler und hat wie immer Recht.
    » Ja, stimmt«, gebe ich deshalb kleinlaut zu und weiß nun auch nicht mehr so genau, was ich jetzt eigentlich noch mal meinte und wollte und gedacht und gesagt habe.
    » Ich würde aber gerne wissen: Warum denken Sie, haben Sie in Ihrem Traum den Unfallwagen gesteuert?«
    Auf diese Frage gefasst antworte ich: » Weil ich mich schuldig an ihrem Tod fühle, und weil ich im Grunde glaube, dass ich ihn hätte verhindern können. Das ist doch die richtige Antwort, oder?«
    Sie schüttelt erneut den Kopf und sieht mich eindringlich an. » Ida, wenn Sie wissen würden, was ich für eine Antwort erwarte und was Sie darauf erwidern müssen und immer so fort, dann könnten Sie auf der Stelle gehen und sich alleine therapieren. Ich frage mich vielmehr: Haben Sie Gefühle von Rache?«
    Erstaunt blicke ich sie an und nicke trotzdem mit dem Kopf. Ein Nicken, das ich mir nicht ausgesucht, das ich nicht geplant oder gewollt habe. Ein freudsches Nicken vielleicht, eines, das ganz ohne mein Zutun entstanden ist. Ich bin verwundert und öffne den Mund, ohne etwas zu sagen. Frau Wängler betrachtet mich nachdenklich und wartet.
    Schließlich setze ich zu einer Erklärung an: » Es ist so, dass ich, wie vermutlich jeder Mensch, Rachegefühle hatte. Und habe.« Das klingt neutral, das klingt gut.
    » Wem gegenüber?«
    » Einigen Menschen. Menschen, die mir nicht gutgetan haben. Oder die schlimme Sachen gesagt haben. Oder die dafür gesorgt haben, dass mein ganzes Leben in dieser Stadt die meiste Zeit die Hölle war.« Das klingt schon wieder nach unangemessenem Selbstmitleid und nach Pubertät in einer Kleinstadt, wie sie tausende durchleben mussten. Man kennt das ja.
    » Was für Menschen waren das, und was haben sie gemacht, das so schlimm war?«, fragt Frau Wängler nach.
    » Sie haben mir mein Spielzeug weggenommen, haben mir Spitznamen gegeben, die nicht sehr schön waren, haben über mich gelacht, Gerüchte verbreitet, haben mich ausgeschlossen. Herrje, es war genauso, wie es bei so vielen anderen auch war. Es war eine Kleinstadt hier in der Nähe, und die Menschen waren eben Idioten, die nicht weiter als bis zum nächsten Besäufnis in irgendeinem Festzelt oder in irgendeiner Scheune denken konnten. Ohnehin haben sie nicht viel gedacht, außer eben daran, woher das nächste Bier kommen könnte. Es war eben die Kleinstadt. Was ist eine Kleinstadt anderes als

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