Drüberleben
flüstern, tuscheln, reden und saufen?«
» Sie zum Beispiel haben Ihre Jugend ja anscheinend anders verbracht«, stellt sie fest, und ihre Beharrlichkeit lässt vermuten, dass dies eine Stunde sein wird, in der es um die Provinz und das Gegenteil von Dingen geht, die gemeinhin als pittoresk bezeichnet werden.
» Was möchten Sie jetzt von mir hören?«, frage ich, mittlerweile angestrengt von der so wenig subtilen Befragungsmethodik, deren Ziel so klar zu erkennen ist.
» Ich möchte von Ihnen hören, was Sie wirklich belastet. Ich möchte wissen, wie es Ihnen vor Julias Tod erging und ob Sie da nicht vielleicht zwei Tatsachen vermischen, die am Ende zwar zusammengehören, aber nicht das Gleiche sind.«
Ich frage sie, welche beiden Tatsachen damit gemeint sein könnten, und sie erwidert vage, dass ich darüber einmal nachdenken solle.
» Sagen Sie mir, welche beiden Tatsachen Sie meinen, oder ich gehe«, spreche ich eine Drohung aus, die mir sofort sehr lächerlich erscheint.
» Nun gut, Frau Schaumann, ich glaube, dass Sie eigentlich schon seit Ihrer Kindheit depressiv sind und immer wieder Phasen der Isolation und der… nennen wir es… Verzweiflung durchlebt haben. Ich glaube weiterhin, dass der Tod Ihrer Freundin vielleicht der letztendliche Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, jedoch nicht die Ursache, die wir in dieser Metapher einmal als das Fass selbst betrachten wollen. Ich denke noch immer, dass Sie einen Weg finden sollten, sich und der Welt zu vertrauen– und zwar in einem Ausmaß, das weit über das hinausgeht, was Sie bisher als Normalität verstanden haben. Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Traurigkeit und Verzweiflung eben keine Normalität sind, sondern Zustände, die– nach einer gewissen Zeit und bei einer gewissen Schwere– besorgniserregend sind und der Behandlung bedürfen. Falls Sie weiterhin alle Therapien und Behandlungen vorzeitig abbrechen, mache ich mir große Sorgen um Ihr weiteres Leben und um Ihre Gesundheit.«
Und damit stellt Frau Wängler alles, was ich bisher als richtig, als » normal«, als roten Faden meines Seins empfunden habe, in Frage.
Die einzige mögliche Reaktion? Lachen. Ich breche in ein lautes, befreiendes Lachen aus und weine jetzt Tränen, die keine Schwere, die keinen Kummer mehr auf meine Hosenbeine fallen lassen. Ich lache so laut, dass Frau Wängler einen Moment zusammenzuckt, um mich im nächsten entgeistert anzustarren. Als ich mich beruhigt habe, entspannt sich mit einem Mal mein ganzer Körper. Zum ersten Mal seit Wochen werde ich wirklich ruhig und kann mich zurücklehnen, ruhig atmen und leise lächeln.
» Warum finden Sie das so witzig?«, fragt Wängler jetzt nach und sieht angegriffen aus.
» Weil das alles sein soll? Das ist das ganze große Geheimnis? Ich habe kein Vertrauen zu mir selbst und keines in diese anstrengende Welt da draußen, und das, was ich für normal halte, ist in Wahrheit absonderlich und muss geheilt werden? Das ist alles?« Ich erhebe mich und sehe einer verschreckten Therapeutin in die Augen. » Das ist alles?«, schreie ich weiter, » das ist Ihre ganze Wahrheit? Applaus, Frau Wängler, Sie haben das Offensichtlichste entdeckt! Natürlich habe ich kein Vertrauen in die Welt. Natürlich ist mein Zustand nicht normal. Sonst wäre ich ja nicht in einer psychiatrischen Klinik und würde darüber reden, wie furchtbar meine Kindheit war! Was ist das denn für eine Analyse meines Problems? Das ist doch keine Diagnose, das ist doch gar nichts! Das hätte doch jeder Mann, mit dem ich geschlafen habe, herausfinden können. Ich aber will wissen: Warum ist das so? Warum habe ich alles besessen und bin trotzdem nicht zufrieden? Warum habe ich Depressionen? Warum habe ich Panikattacken? Sie werden doch dafür bezahlt, mir genau das zu sagen– und nicht so einen offensichtlichen Unsinn, den jeder weiß!«
Frau Wängler hat mir mit starrem Blick zugehört und sich, mit den Händen im Schoß, nicht bewegt. Nun fordert sie mich leise auf, mich wieder zu setzen. Ich folge ihrer Aufforderung widerwillig und setze mich auf meinen Platz zurück.
» Sie dürfen schreien. Sie können laut werden, wenn Sie wütend sind. Aber ich verbitte mir– und das werde ich nur ein einziges Mal sagen– Beleidigungen meiner Arbeit, meiner Profession oder meiner Person. Außerdem: Natürlich war das alles nicht der Wahrheit letzter Schluss. Ich habe lediglich die Punkte herausgearbeitet, von denen ich glaube, dass sie relevant
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