Drüberleben
deren einzige Therapie darin bestand, dass die Patienten morgens berichteten, wie es ihnen so ging, und abends das Gleiche noch einmal erzählten, und dazwischen bastelten sie, und manchmal durften sie auch mit einem Therapeuten reden, aber bitte, der Reihe nach, Leute. Insgesamt verbrachte ich sechs Monate dort und hatte die meiste Freizeit meines Lebens, die ich dazu nutzte, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich mich lieber umbringen oder weiterbilden sollte, also einige Bücher über Existentialismus, Nihilismus und Atheismus lesen. Möglichkeit zwei führte wiederum dazu, dass ich am Ende wieder zu Möglichkeit eins tendierte und nur noch morgens in den Bus stieg, um nicht in die Schule zu müssen. In den Filmen lernen Menschen in solchen Situationen dann im Bus die Liebe ihres Lebens kennen, oder sie lernen wirklich wichtige Dinge über das Leben von einem, den sie in so einer Klinik treffen, oder sie lernen zumindest, dass es immer noch viel, viel schlimmer kommen kann.
Ich lernte jedoch nur, dass freie Zeit eine Größenordnung war, die manchmal außerhalb des Begreifens lag, die sich manchmal so qualvoll ausdehnen konnte, dass kein physikalischer Begriff ihrer noch mächtig war. Ich lernte außerdem: alleine zu sein, mich nur mit mir selbst zu beschäftigen, die meisten meiner Mitmenschen zu hassen. Nachdem ich ein halbes Jahr meiner Adoleszenz oder deren Ausläufe in einer Psychiatrie verbrachte, in der ich den Altersdurchschnitt um ungefähr dreißig Jahre senkte, diagnostizierte man mir, dass ich depressiv, persönlichkeitsgestört und hyperaktiv sei, eine so explosive Mischung, dass es an ein Wunder grenze, dass ich noch nicht Amok gelaufen sei oder versucht hätte, die Rasierklingen meines Vaters zu benutzen. Man entließ mich mit allerlei bunten Tabletten, guten Wünschen und skeptischen Blicken, und ich schlief in den folgenden Monaten in der Schule die meiste Zeit ein, blieb am Ende sitzen und musste die elfte Klasse wiederholen.
Das Unaussprechliche hatte sich somit zu etwas sehr Greifbarem, zu etwas Aufschreibbarem verwandelt, zu etwas, das jetzt Namen trug und Diagnoseschlüssel– mit denen ich trotzdem glaubte, nie die Tür zu meiner Persönlichkeit aufschließen zu können, so sehr ich auch daran rüttelte.
Was passiert mit einem Menschen, der durch Milchglas sieht, der nichts begreift, außer dass er nichts mehr begreift, der nichts fassen kann, der sich selbst nicht anfassen kann, ohne sich die Finger an all den Gedanken schmutzig zu machen, die unberührt nur in den Träumen ihre Spuren hinterlassen hätten. Mit diesem Menschen, mit mir, Ida Schaumann, passierte zunächst einfach nichts. Ida Schaumann ist weiter zur Schule gegangen, hat ihr Abitur gemacht und ist danach weggezogen. Und Ida Schaumann hat nie aufgehört, in ihr Kopfkissen zu beißen. Hat nie aufgehört, das Mädchen zu sein, das sich das Leben ausdenkt, das sie gern hätte, während sie den Damen und Herren in der Psychiatrie einmal pro Woche das Leben präsentiert, das sie in Wahrheit führt: ein Leben zwischen Exzess und Lethargie, zwischen Verzweiflung und Apathie. Ida Schaumann hat überhaupt niemals aufgehört, an diesem Grab zu stehen, die Asche darauf fallen zu sehen und sich zu wünschen, sie läge selbst in diesem Loch.
Siebzehn
B eate Wängler schüttelt sachte den Kopf und spricht dann von Eigenverantwortung und von der Möglichkeit, jederzeit das eigene Verhalten zu reflektieren, zu verändern, zu hinterfragen und wieder zu verändern.
» Fragen Sie sich doch einfach einmal, was Sie einer Freundin in einer solchen Situation sagen würden. Würden Sie ihr raten, sich einzumischen, sich um eine andere Person zu kümmern und sich um sie Gedanken zu machen, oder würden Sie ihr raten, sich zunächst einmal um sich selbst zu kümmern und auf ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu achten?«
Eine rhetorische Frage. Eine dieser Fragen, deren Beantwortung einem Schuldeingeständnis der eigenen Idiotie gleicht. Ich werde kein Wort sagen, Herr Richter, kein Wort.
» Gut, ich denke, Sie wissen, wie die Antwort lauten muss und wie Sie nicht lauten kann. Sie kann nicht lauten, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse hinter die einer Person stellen, die Sie kaum kennen. Hier ist jeder für sich verantwortlich, und um den Rest kümmern wir uns, Frau Schaumann.«
Ich habe ihr nicht gesagt, um wen es geht. Ich habe mein Wort nicht gebrochen und an den richtigen Stellen keine Antwort gegeben. Sie kann nicht wissen, um wen es
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