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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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auftauchte, an einem Mittag im August als ich gerade auf der Terrasse saß. Es war ja nicht so, dass dieses Wort mit einem Mal da war oder einfach auf einem Zettel stand, den man mir reichte. Es tauchte zunächst bloß in Blicken auf, wenn ich die Schule geschwänzt hatte, weil mir das ewige Streben nach etwas, das mir unerreichbar schien, für einen Moment alle Kraft genommen hatte und ich im Bett lag, einmal mehr die Wand anstarrte und traurige Musik irgendwelcher Boygroups hörte, die man eben damals so hörte. Das Wort tauchte in Zwiegesprächen verkleidet in anderen Worten auf, in sorgenvollen Gesten, wenn Peer und Sebastian feststellten, dass ich auch schon ohne sie angefangen hatte zu trinken. Nachmittags um fünf.
    Das Wort tauchte schließlich erst in seiner wahren Bestimmung bei einem Arzt auf, der nicht herausfinden konnte, warum ich immer weniger aß, dauernd Bauchschmerzen hatte und jede Möglichkeit mied, das Haus zu verlassen. Das Wort, das mir so unaussprechlich erschien, dass ich es immer verschwieg, dieses Wort wurde nun von diesem Arzt ausgesprochen, während meine Mutter meine Hand drückte und der Arzt auf seinen Computer starrte. Wir gingen.
    Erst als Julias Beerdigung vorüber, als alles gesagt war und alles nicht Gesagte auch weiterhin verschwiegen wurde, als alle gegangen waren und schon längst der Alltag wieder in den Häusern wohnte, in denen man beim Abendessen zunächst noch über diesen tragischen Vorfall gesprochen, sich dann aber stillschweigend geeinigt hatte, dass dies ein Thema sei, das zu allem besser passe als zu einem Essen, kurz, als all das in Vergessenheit geraten war, erst dann wurde das Wort immer lauter, die Vermutung immer konkreter, dass Ida Schaumann nicht ganz richtig im Kopf war, dass Ida » depressiv« wirke und dass man etwas unternehmen müsse. Etwas unternehmen bedeutete für Peer und Sebastian, dass sie begannen, mich beinahe jeden Abend abzuholen, um irgendwo etwas mit mir essen zu gehen, und für meine Eltern bedeutete es, dass sie sich sorgten, sorgten, sorgten.
    Plötzlich gab es immer mein Lieblingsessen (das eigentlich zu dieser Zeit » nichts, danke« war), plötzlich wurde nach Freunden, nach der Schule, nach den Hobbys gefragt, die allesamt für mich schon kaum mehr eine Rolle spielten. Ich antwortete trotzdem, erfand, wie so oft, etwas und war der Annahme, dass ich mich ganz gut schlug, auch wenn in meinem Inneren alle Gerüste, alle Mauern, alle Gebäude eingestürzt waren und selbst die letzten Überlebenden sich längst aus dem Staub gemacht hatten. Ich war am und im Arsch, so sehr, dass ich es nicht einmal mehr fertigbrachte, die Wahrheit zu sagen und die hässliche Fratze zu zeigen, die mein Gesicht längst geworden war.
    Eines Tages jedoch ließ sich all das nicht mehr verbergen, eines Tages ließ sich überhaupt nichts mehr verbergen, ich kam in das Wohnzimmer meiner Eltern, in dem auch Peer und Sebastian saßen. Sie sagten mir, dass es so nicht weiterginge, dass ich depressiv sei und dass das zwar schon immer ein bisschen so gewesen sei, dass es aber jetzt überhaupt gar nicht mehr darum ginge, ob ich das so sähe, sondern darum, was jetzt am besten für mich sei, und das sei auf jeden Fall und mit absoluter Sicherheit eine Klinik in der Nähe, man habe schon das Wichtigste veranlasst.
    Ich brachte nicht die Kraft auf, mich zu widersetzen, und so befand ich mich einige Wochen später zum ersten Mal in einer tagesklinischen Psychiatrie und verpasste nicht nur den Schulanfang, sondern auch mein Leben, das bis dahin zwar alles andere als gut gewesen, jedoch nicht im Ansatz so schlimm war wie die Wochen, die dann folgten.
    Ich lernte dort, dass manchmal auch Nachbarn so beschädigt sind, so dermaßen neben sich stehen, dass man es nicht für möglich hält, dass sie am Abend wieder in ihrer Einfahrt auf- und ablaufen und die Blumen gießen. Ich lernte zu erzählen, dass ich die Schule in dem Ort besuchte, in dem sich die Klinik befand, wenn ich morgens mit vielen Schülern in dem Bus saß, der sie zu sechs langweiligen Unterrichtsstunden und mich in die Psychiatrie brachte. Ich lernte zu erzählen, dass ich an einer langwierigen, komplizierten Krankheit litt, die ich mithilfe eines Arztes, der in jenem Ort praktiziere, behandeln ließe, und es würde sich ziehen, es würde noch dauern, nein, in diesem Halbjahr komme ich wohl nicht zurück.
    Nur Peer und Sebastian wussten, wo ich mich tatsächlich aufhielt, und holten mich manchmal aus der Klinik ab,

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