Drüberleben
für die weitere Therapie sind. Noch immer bin ich mir nämlich nicht ganz sicher, auf was genau Sie hinauswollen und was Ihre Ziele hier sind.«
Verzweifelt blicke ich sie an und ringe mit den Händen.
» Ich weiß, dass Sie glauben, dass Sie das schon viele Male erklärt und erzählt haben. Auf der anderen Seite betonen Sie aber immer wieder, wie wenig Sie selbst wissen, warum Sie eigentlich hier sind, womit Sie ja eigentlich meinen, warum Sie überhaupt in Kliniken, zu Psychotherapeuten und Psychiatern gehen müssen. Ich stelle lediglich fest, dass wir das gemeinsam herausfinden müssen und dass ich nicht daran glaube, dass der Tod Ihrer Freundin die Wurzel allen Übels in Ihrem Leben ist. Können wir uns darauf einigen, Frau Schaumann?«
Ich nicke besiegt und schleiche ein paar Minuten später aus ihrem Zimmer, in der Hand einen Zettel, auf dem die Aufgabe steht, meine Therapieziele festzulegen und zu erörtern. Der Zettel wiegt so schwer in meinen Händen, dass ich ihn beinahe fallen lasse, und wie in Trance schleiche ich den Gang entlang zurück zu meinem Zimmer. Mein Körper hat sich entschieden. Es ist die Schwerkraft, die er sucht, die Kraft, die ihn am Boden hält, die Möglichkeit des sicheren Ganges, der Füße auf dem Boden der Realitäten, mit dem Kopf nach oben, den anderen beim Fliegen zusehend.
Achtzehn
A ls ich mein Zimmer betrete, liegt ein Brief auf meinem Bett. Die Adresse des Krankenhauses steht auf dem Umschlag und mein Name und ein Hinweis, der nachträglich hinzugefügt wurde, auf welcher Station dieser Brief abzugeben ist. Zunächst glaube ich an Post von meinen Eltern, die mir in unregelmäßigen Abständen Geld und gute Wünsche zukommen lassen, in Worten voller Sorge und voller Angst. Keinen dieser Briefe habe ich beantwortet, aber jeden in einer Schachtel im Schrank aufbewahrt mit dem Vorsatz, sie irgendwann alle auf einen Schlag zu beantworten in einem Brief, der so lang, so erschöpfend und so erklärend ist, dass alle Fragen, dass alle Missverständnisse der letzten Jahre ausgeräumt werden und sie verstehen können, dass… Aber im Grunde weiß ich längst, dass ich nie auch nur einen einzigen Brief beantworten werde, dass ich niemals schreiben kann, was ich nicht einmal zu denken oder zu sagen wage, dass kein geschriebenes Wort je erklären könnte, was die eigentlich brennende Frage ist, die sich hinter jeder Zeile meiner Eltern verbirgt: Warum, Ida?
Ich öffne den Brief hastig, schon darauf vorbereitet, ihn nur zu überfliegen wie all die Briefe meiner Eltern, die ich kaum noch lese, sondern nur noch scanne auf Wichtigkeiten, auf Dinge, die nicht verschoben werden können. Doch die Schrift ist nicht die meines Vaters und nicht die meiner Mutter, es ist eine krakelige, ungalante und beinahe unbeholfene Schrift, die hektisch über die Seiten gleitet und die versucht, Dinge zu erklären, ausnahmsweise Dinge zu erklären und sie nicht zu fragen. Die einzige Frage, die ich in diesem Brief finden kann ist: Darf ich dich besuchen?
Liebe Ida,
ich habe deine Wohnung aufgeräumt. Das habe ich gemacht. Ich weiß nicht mal, wieso. Ich glaube, dass ich nicht begreifen konnte, wie ein Mädchen wie du in so einer Wohnung leben kann. Ein Mädchen wie du, das klingt, als würde ich dich kennen. Dabei kenne ich dich natürlich überhaupt nicht. Oder nur ein bisschen. Man sagt ja, dass man jemanden erst kennt, wenn man in seinen Schuhen gelaufen ist. Vielleicht ist das heute etwas altmodisch, und vielleicht kann man ja heute auch sagen, dass man jemanden kennt, wenn man seinen Müll durchsucht hat. Kleiner Scherz, ich habe ihn natürlich nicht durchsucht, sondern bloß weggebracht.
Ich weiß nicht, warum ich dir schreibe, das muss ich zugeben. Aber ich glaube, dass ein Kuss zwar kein Versprechen sein muss, aber eines sein kann. Klingt kitschig, ich weiß, und dabei will ich gar nichts Kitschiges schreiben, weil wir uns ja eben kaum kennen. Was ich aber will, ist, dass du mir erlaubst, dich wiederzusehen. Ich weiß, dass ich mir mit diesem Wunsch – der eigentlich ein Befehl ist – unter Umständen keinen Gefallen tue, aber, nimm das nicht persönlich, ich möchte gerne wissen, was unter dem ganzen Müll eigentlich so vergraben liegt. Falls du also deinen Verstand wiedergefunden hast (und auch, wenn nicht), würde ich es ziemlich gut finden, wenn ich mal bei dir und deinen Verrückten vorbeikommen kann.
Also, versteh das nicht falsch, ich habe auch Hobbys und Freunde und andere Sachen zu
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