Drüberleben
nicht wusste, wovon ich da eigentlich gerade erzählte, aber ich kopierte einfach alles, was sie sagten, auf ein Blatt zusammen, das ich mir in den Mund stopfte, auf die Zunge legte. Auch ich erlebte solche Geschichten, wenn auch nur in meinem Kopf und in den Worten– aber Geschichten, seien wir ehrlich, sind doch ohnehin nur im Moment ihres Geschehens real, und schon ein paar Sekunden später bestehen sie nur noch aus Erinnerungen und Worten. Und so hatte auch ich meine Geschichten, selbst, wenn mir der Ausgangspunkt– ihr wahres Geschehen– fehlte, so hatte ich doch wenigstens die Hälfte aller Geschichten parat: das Erzählen darüber.
Und so waren die ersten Jahre auf dem Gymnasium eigentlich glückliche Jahre, Jahre, in denen ich zwar alles nur aus zweiter Hand erlebte, in denen ich die Erlebnisse der anderen trug wie meine eigenen, in denen ich aber immerhin die Ferien nicht mehr allein und den Sommer nicht mehr ausschließlich zu Hause verbrachte. Was aber passiert mit einem Menschen, dessen äußerste Schicht nie das Passierte, das Gegenwärtige berührt und der immer nur auf der Suche, auf der Jagd nach dem Zukünftigen ist, wenn dann endlich alles besser, alles einfacher, alles erträglicher wird, wenn endlich Schnaps und Lächeln fließen, wenn endlich alle Knoten platzen, das Netz auffängt, anstatt einzuschließen, wenn man endlich vom Fisch zum Seilakrobaten geworden ist? Was passiert mit so einem Menschen? Er entwickelt sich nicht, entwickelt sich nur spärlich, nur in winzigen Schritten, weil sein einziges Ziel immer nur das Ankommen an einem Punkt bleibt, der im Grunde schon in der Vergangenheit liegt, er also in der Zukunft etwas längst Passiertes sucht, das er nicht finden kann, aber nicht aufhören kann, danach zu suchen.
Wängler bezeichnet das bisweilen als » Chance der Nachreifung«, was bedeutet, dass der Mensch lernen muss, dass alles längst passiert ist, dass er den Ausgangspunkt längst verpasst hat und dass er jetzt lernen muss, begreifen muss, dass alles andere im Jetzt liegt, dass er nicht mehr das Mädchen ist, das sich nach der Liebe eines abwesenden Vaters sehnt, und nicht mehr der kleine Junge, der die Bestätigung von Freunden sucht, die er nie hatte. Er muss begreifen, dass das alles lange vorbei ist, so sehr Schnee von gestern ist, dass die gewaltigen Massen des geschmolzenen Eises über dem kleinen Mädchen oder dem kleinen Jungen liegen und sie zu erdrücken drohen, dass diese beiden, die längst erwachsen sind und längst nicht mehr an den Vater, die Freunde, den viel zu netten Onkel oder die schlagende Großmutter denken, dass diese beiden sich jetzt ohne Suchhunde und ohne Taschenlampe durch den Schlammhaufen aus Dreck und Eis wühlen müssen, um Tageslicht zu sehen, das jetzt » Glück« heißt. Zu begreifen ist: Wenn du es nicht schaffst, die fehlerhaften, die fehlenden Dinge deines Lebens zu überwinden, dann wirst du bis zum Ende deiner Tage im Schlamm deiner eigenen Haltlosigkeiten wühlen, dann wirst du darin ersticken, versprochen und auf Wiedersehen.
Ich tat also so, als hätte ich dieses Leben gehabt, ich tat so, als hätte es einen ersten Kuss, eine erste Begegnung gegeben, als hätte es stattgefunden, dieses leere Leben, das ich glaubte, mit erfundenen Geschichten füllen zu müssen, auf dass mir die Worte zum Munde herausliefen wie den anderen. Fake it till you make it.
Und es lief ganz gut. Ich lernte Peer und Sebastian kennen, ich lernte Julia kennen, ich lernte manchmal Jungen kennen, die gut rochen und sich gut anfühlten und um die herum ich mein Netz aus Dramen und Geschichten spann, sodass wir in meinem Kopf all die Dinge erlebten und unternahmen, von denen die anderen erzählten. Ich ging mit ihnen ins Kino und in Cafés, wir aßen Eis und küssten uns sogar, ich wusste schon ganz genau, dass wir uns auch küssen würden und wann und wie und dass es ganz bestimmt sehr romantisch und einzigartig sei, der Beginn einer ganz großen Verbindung, der Beginn der Verbindung zwischen mir und der Welt.
Leider passierte nie mehr, als dass die Jungen gute Freunde wurden, die sich in meine Freundin und manchmal auch in meine Freunde verliebten, aber meine Güte, so etwas passiert eben. Dachte ich zunächst. Und dachte ich auch nach dem zehnten Mal und nach dem fünfzehnten Mal, und dann kam auch schon ein neuer Junge, der mich dann tatsächlich auch einmal küsste, aber geändert, geändert hat das nichts.
Es war ja nicht so, dass dieses Wort plötzlich
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