Drüberleben
tun, aber ach was, ich schreibe ja nur Unsinn, was daran liegt, dass ich eigentlich nie Briefe schreibe. Allein dafür solltest du mir schon zugestehen, dir einen Besuch abzustatten. Und auch dafür, dass ich diesen Brief acht Mal schreiben musste und ihn an alle acht psychiatrischen Abteilungen aller acht Krankenhäuser in dieser Stadt schicken musste, damit er auch bestimmt in demjenigen ankommt, in dem du bist.
Darf ich dich besuchen?
Johannes
PS : Von den Pfandflaschen habe ich mir ein ziemlich gutes Frühstück gekauft, du hättest dabei sein sollen!
Der Brief hat über eine Woche von seinen Händen bis auf mein Bett benötigt, falls die Datierung, die oben rechts steht, stimmt. Vielleicht hat er aber nur sehr lange überlegen müssen, ob er ihn wirklich abschicken soll. Einen Moment bin ich versucht, ihn einfach zu den anderen in die Schachtel zu legen und zu vergessen, dass es ihn jemals gab, dass ich ihn jemals in den Händen gehalten habe und dass es diesen Jungen und diese Geschichte gibt, auch noch gibt, als wäre der Rest nicht schon Zumutung genug.
Seine Telefonnummer hat er dazugeschrieben, mit einem anderen Stift, als sei ihm erst spät eingefallen, dass ich weder seine Adresse noch seine Nummer weiß.
Liebe, 267 000 000 Suchergebnisse in 0,11 Sekunden. Ja oder nein, 2 520 000 Suchergebnisse in 0,09 Sekunden. Sich nicht entscheiden können, ein Ergebnis in drei Tagen. Ich schreibe zurück. Dafür musste ich nicht einmal die Blätter einer Blume ausreißen, nicht einmal ein Orakel befragen– das heißt Iris–, ich musste nicht einmal nicht schlafen können. Denn einen Tag später rufen meine Eltern an und fragen, ob Besuch erwünscht sei, ob ich mir vorstellen könne, dass sie kämen, meine Brüder seien leider verhindert, aber sie beide könnten am nächsten Wochenende kommen, das wäre doch schön, oder? Die Antwort fällt aus mir heraus, als hätte sie nur auf den richtigen Moment gewartet, als hätte sie in einem Schützengraben ausgeharrt, um bei der ersten sich ihr bietenden Gelegenheit aus mir herauszuschießen. » Nein«, sage ich, » nein, das geht nicht, da bekomme ich schon Besuch.«
In all der Zeit, die ich hier, die ich auf dem Boden und auf dem Bett, in den Räumen mit den anderen verbracht habe, hatte ich versucht, den Gedanken an ihn, die Wohnung, den Müll zu vermeiden. Nur selten hatten sich vereinzelte Bilder wie kleine Geschosse in meine Gedanken verirrt, und bei jedem hatte es geschmerzt, als seien es tatsächlich Schüsse gewesen, die mich trafen. Ich wollte nicht mehr daran denken, wie ich all die Nächte und Jahre verbracht, wie ich all die Bemühungen in Bars verschwendet hatte, die nicht mehr hinterließen als das schale Gefühl, etwas vergeblich erzwingen zu wollen, das meinem Charakter so entgegengesetzt zu sein schien. Ich wollte nicht mehr daran denken, wie ich irgendwann herausgefunden hatte, dass ein Lächeln, ein bisschen Lipgloss und ein bisschen Rock oft ausreichten, um ein paar Stunden nicht allein, um ein paar Eindrücke lang nicht einsam zu sein. Ich wollte nicht mehr daran denken, wie sehr ich mir jedes Mal wieder gewünscht hatte, dass endlich die Müllabfuhr kam, um mich wegzubringen, mich und den ganzen Schmutz der an meinen Händen klebte wie etwas, das ich nie wieder abwaschen würde können.
Ich hatte mit den Jahren gelernt, wehrhaft zu sein, zu lächeln, wenn ich eigentlich schreien wollte, zu tanzen, wenn ich schlafen wollte, und zu kokettieren, wenn ich eigentlich immerzu reden wollte, Hilfe, ich kann nicht mehr, Hilfe, könntest du bitte mal kurz mein Glas halten und mich, mich gleich mit, könntest du bitte meine Zigarette anzünden und mein Leben, mein Leben gleich mit, könntest du mich bitte küssen und danach auffressen, vielleicht kann ich in deinem Magen wohnen, vielleicht kann ich dort schlafen und mich einrichten, bis du genug von mir hast und mich auf die Straße kotzt, könnte ich bitte, ich bin Ida, hi, und wer bist du?
Ich hatte in all den Jahren gelernt, dass ich Masken wie Make-up trug, dass eine Nacht keine Versprechen, dass Versprechen keine Versprechen, dass gar nichts irgendwas sein musste, außer jetzt, jetzt und hier war das, was der Moment hergab, und manchmal gab der Moment eben nur den bitteren Geschmack auf der Zunge her, den man mit ein paar süßen Worten gleich viel besser ertragen konnte. Ich hatte Freunde, ich hatte Partner, ich hatte Sex, und wir sagten uns auch » ich liebe dich«, und bestimmt hat es einer von
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