Drüberleben
zu haben, dass ich etwas bin, das du retten kannst. So ein kleiner Hundewelpe, den du im Müll gefunden hast. Ich will nicht dieser Welpe sein, und ich will auch nicht übertreiben. Ich bin in einer Psychiatrie, und das nicht grundlos. Ich bin krank, und das schon ziemlich lange. Und ich wollte die ganze Zeit nicht alleine sein, aber zu zweit sein ist keine Option. Ich bin nicht ganz, ich bin irgendwie beschädigt, und ich will nicht mit dir befreundet sein.«
Er erstarrt und stellt vorsichtig seine Tasse auf den Tisch. Er erhebt sich langsam, nimmt seine Jacke vom Stuhl und sieht mich an.
» Weißt du, ich dachte, dass ich dir vielleicht einfach helfe. Dass ich dir vielleicht helfe und du vielleicht dankbar sein könntest, dass dir jemand die scheiß Wohnung und dein scheiß Leben aufgeräumt hat, das du ja scheinbar alleine nicht auf die Reihe kriegst. Aber wenn du glaubst, dass ich das mache, damit ich ein bisschen mit dem kleinen Welpen spielen kann, dann bist du nicht krank, sondern dumm.«
» Verpiss dich«, murmele ich und schäme mich für jedes meiner Worte.
» Ich glaube, dass du das gut kannst, Ida Schaumann, Menschen aus deinem Leben wegwerfen. Besser jedenfalls als du es mit dem Müll kannst. Und ich glaube, dass du das nur machst, weil irgendeine kranke Seite in dir glaubt, dass du es nicht wert bist…«
» …gemocht zu werden. Bla bla bla. Schon mal überlegt, dass ich vielleicht gerade einfach keine Zeit für so etwas habe? Und dass sich das auch in meinem jetzigen Zustand alles überhaupt nicht lohnt?«
» Schon mal überlegt, dass sich das immer lohnt?«
» Amen.«
» Ach Ida, wenn du dein Selbstmitleid überwunden hast, dann ruf mich an. Oder besser: Ruf nicht an, freu dich einfach darüber, dass es mal jemanden gab, der dich vielleicht gemocht hätte. Auch, wenn das ziemlich schwierig bei dir ist. Und für dich. Wenn es ziemlich schwierig für dich ist, sich das vorzustellen.«
Die Tür fällt leise hinter ihm zu, und ich bin sehr erleichtert und sehr zufrieden. Zufrieden mit der Tatsache, alleine in meiner aufgeräumten Wohnung zu sitzen. Ich bin so zufrieden, dass ich singen möchte. Dass ich tanzen und ein gesundes Essen auf meinem Herd kochen möchte. Ich bin so zufrieden, dass ich jetzt gleich jemanden anrufen möchte, um ihm zu sagen, wie zufrieden ich mit mir selbst bin. Wenn ich jemanden anrufen könnte. Wenn da noch jemand wäre.
Neunzehn
J eden Morgen laufe ich in den Essensraum, bestreiche Brote mit Frischkäse, trinke schalen Kaffee und versuche den Gesprächen der anderen zu folgen. Manchmal scheint mir die Sonne auf den Rücken, und manchmal scheint sogar alles ein bisschen besser zu sein. Mit jedem weiteren Tag hier türmen sich die Fragen jedoch zu klebrigen Klumpen, die in den Gedankengängen liegen und die mich über Kleinigkeiten stolpern lassen, die ich vorher zu verstehen geglaubt habe. Mit jedem Tag mehr zweifle ich an einer Zielsetzung, deren Erreichbarkeit von Anfang an schier unmöglich schien.
Vielleicht, denke ich, vielleicht könnte alles viel leichter sein, vielleicht könnte ich einfach gehen, rausgehen, mich überleben, drüberstehen, drüberleben. Vielleicht, denke ich, ist all das nur ein obsessives Trauern um den eigenen Verstand, aber Verstand– wer braucht den schon. Und wer ihn verloren hat, hat kaum genug Verstand übrig, um um selbigen noch zu trauern.
Jeden Morgen nach dem Frühstück finden die Gruppen statt, die ich zuverlässig besuche und an denen ich mich beteilige, so gut es eben geht. Wir sprechen über Depressionen, über Ängste und warum ausgerechnet wir in diesem Stuhlkreis sitzen müssen, um darüber zu sprechen, wie sehr wir unsere eigenen Leben ruiniert haben. Manchmal sagt jemand, dass es ja die Krankheit sei, die das eigene Leben ruiniert habe, und manchmal wissen alle, dass das nicht stimmt. Meistens hat überhaupt niemand sein Leben ruiniert, und meistens ist daran auch keine Krankheit schuld, sondern einfach so viele Variablen, dass Depression nur eine einzelne unter vielen bleibt. Oder das Ergebnis.
In den Gruppen lernen wir, was wir tun können, wenn sich anschleicht, wovor wir solche Angst haben, wenn uns überfällt, wovor wir uns fürchten. Vor der Müdigkeit, der Lethargie, der Schwäche und der Angst, dass wir niemals wieder aufstehen können. Wir lernen, dass gesunde Ernährung wichtig ist und Sport, und die Tabletten, die sind zum Nehmen da, sagt Herr Weimers. Wir lernen, dass wir keinen Alkohol, dafür aber viel
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