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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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uns auch so gemeint, bloß war das nie ich. Ständig war ich davongelaufen, war weggerannt von allen Möglichkeiten, die real zu werden schienen, weil ich es nicht ertrug, dass ich nie mehr fühlte als mein Gesicht, das sich an die Milchglasscheibe presste und versuchte, nach draußen zu sehen, in dieses Draußen, das ich zwar kannte, aber eben nie erlebte.
    Um es kurz zu machen: Ich hatte es in all den Jahren zwar zu einigem Kontakt mit Männern gebracht, es jedoch nie geschafft, eine engere, ernsthaftere Bindung aufzubauen. Spätestens, wenn die Jungen– und später die Männer– begriffen, dass ich lieber zu Hause blieb, während sie ausgingen, dass ich lieber alleine war, während sie zu zweit sein wollten, dass sie im Grunde Single blieben, während sie mit mir zusammen waren, hatten sie das Weite gesucht, und das hatte mich zwar jedes Mal gekränkt, hatte sogar Tränen und Widerwillen hervorgerufen, jedoch nie dazu geführt, dass ich in der Lage gewesen wäre, an ihren Entscheidungen etwas ändern zu wollen, sosehr ich mir auch manchmal das Gegenteil gewünscht hatte.
    Einzig Maximilian, der mich um ein Handtuch und einen Schlussstrich gebeten hatte, hatte ich behalten wollen. Und das schien am Anfang sogar möglich zu sein. Wir hatten uns durch einen gemeinsamen Freund kennengelernt, und ich wollte Maximilian so sehr, wie ich bisher überhaupt nichts anderes gewollt hatte, weil Maximilian Heilung und Rettung versprach und einen Sommer im Park und ein Wahrwerden all der Dinge, die ich mir immer so vorgestellt hatte. Ich konnte gar nicht genug bekommen von all den schönen Lügen, die wir in unsere Betten warfen, von all den Stunden, die wir gemeinsam verbrachten, und von all den Küssen, die nach Sonnen- und Erdbeermilch schmeckten. Dass Maximilian wegziehen würde, erzählte er mir vier Wochen vorher, als er die Zusage der Universität gerade in den Händen hielt. Bis zu seinem Abschied sahen wir uns täglich, nächtlich, immerzu, und ich schwor mir, ihn danach nie wiederzusehen. Und trotzdem fuhr ich in seine Stadt, die mir so fremd war, wie plötzlich alles an ihm fremd war. Seine Haare, die jetzt nach Herbst rochen, und seine Hände, die unablässig Zigaretten drehten, von denen er mir keine mehr anbot. Wir trennten uns schließlich in seiner Dusche, das heißt, er sich von mir, und all das passierte so schnell, dass ich gar nicht begreifen konnte, dass es wahr war, dass ich wirklich vor seinem Haus in der großen Stadt saß und zum ersten Mal wusste, wie sich das also anfühlt, wenn ein Moment nie wieder vorübergeht.
    Man soll absteigen, solange man kann. Man soll das tote Pferd nicht weiterreiten. Man soll auf den Zug aufspringen, solange er fährt. Man soll alles, was man kann, und wenn die Beine erst mal laufen, dann kann man ja auch gleich weitermachen, egal in welche Richtung es geht, es geht schon, danke. Ich mache keinen Urlaub, ich mache eine Therapie. Ich checke nicht in Hotels ein, sondern in Kliniken. Dass sich das nicht ändern wird, ist keine Tatsache. Dass sich das ändern wird, ein Wunsch. Ich rufe ihn an.
    Und an einem Nachmittag ein paar Tage später treffe ich Johannes zum zweiten Mal in meinem Leben. Er hat mich zu mir eingeladen, hat sich meinen Zweitschlüssel einfach von der Kommode genommen, damals, bevor er die Tür hinter sich zuzog. Ich stehe vor meiner Haustür und drücke auf den Klingelknopf, auf dem mein Name steht. Ich finde, dass das höflich ist. Ida Schaumann besucht sich heute selbst.
    Die Haustür lässt sich genauso schwer aufdrücken wie vor zwei Monaten, und im Hausflur liegen noch immer alte Prospekte und der Geruch von Kohl und altem Wienermittel, das heute niemand mehr benutzt. Wenigstens das hat sich nicht geändert. Im ersten Stock öffnet sich meine Tür, und Johannes steht im Rahmen und schaut mich ernst an, in seinen Augen eine gespenstische Mischung aus Abwarten und Angst.
    » Willkommen in deinem bescheidenen Reich«, sagt er, ohne das Gesicht zu verziehen.
    Ich bedanke mich, und er schließt hinter uns die Tür zu meiner Wohnung. Es ist aufgeräumt, es ist gefegt, gewischt und gelüftet, die Fenster sind geöffnet, und Kaffee hat er auch gemacht. Ich lege meine Tasche auf den Boden mit einer Vorsicht, als wäre es die Wohnung einer Fremden, in der wir uns heimlich treffen. Ich bin ein Eindringling in meinen eigenen vier Wänden, und ich erkenne nur das Gerüst meiner Räume, während sie mit dem Verschwinden des Mülls zu einer Fassade geworden sind, die

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