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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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ich mit Befremden durchschreite.
    Wir sitzen uns in meiner Küche gegenüber, und er beginnt zu erzählen und erzählt vom März im letzten Jahr, und ich frage mich, was ich zu dieser Zeit gemacht habe, und ich erinnere mich daran: Ich war traurig. Und er erzählt vom Juli im letzten Jahr, und ich frage mich, was ich zu dieser Zeit gemacht habe, und ich erinnere mich daran: Ich war traurig. Und er erzählt vom letzten Jahr, und ich frage mich, was ich im verdammten letzten Jahr eigentlich zum Teufel gemacht habe, und ich erinnere mich daran: Ich war traurig.
    Er erzählt von Freunden und von Straßen und von Clubs und von Aufregungen und Verlusten und von Müdigkeit und Tränen und Nächten, während meine kalten Finger auf dem Tisch nach einer Geschichte suchen, die etwas anderes erzählen könnte als ein halbes Leben voller Diagnosen. Davon weiß Johannes nichts, und ich warte auf den Moment, in dem er mich fragen wird: » Und, wie geht’s dir so?«, und ich bemerke, dass ich die Luft anhalte, dass ich seit zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten kaum Luft bekomme bei all seinen Geschichten und all meinen Nicht-Geschichten, bei all seinem Leben und all meinem Nicht-Leben, in diesem Vakuum aus Langeweile und Atemnot.
    Und eigentlich war das überhaupt nie anders. Es ist physisch unmöglich, dauerhaft die Luft anzuhalten, aber psychisch geht das. Ich kann das. Ich halte die Luft an, seitdem ich denken kann. Während ich mit Johannes am Tisch sitze und er mir von all seinen Dingen erzählt, denke ich an meine schmerzenden Beine. Meine Beine schmerzen nicht wirklich, aber eigentlich müssten sie schon längst abgerissen sein, so sehr bemühe ich mich, in beiden Leben gleichzeitig zu stehen. In diesem Leben, in dem ich mit Johannes an meinem Küchentisch sitze, Kaffee trinke und ein Hologramm bin, in einem Leben, das mir wie ein Computerspiel vorkommt, das ich mit Handschuhen und einem Joystick bediene, und in diesem anderen Leben, in dem ich jeden Morgen um acht Uhr aufstehe, mich anziehe, meine Tabletten nehme und mich danach zum Frühstück in einen Essensraum setze.
    Endlich schweigt er einen Moment und sieht mich vorsichtig an. » Zu viel erzählt?«, fragt er, als kenne er das schon. Als kenne er schon diese Situation, von der er vielleicht glaubt, sie einschätzen zu können, und deshalb Worte wie Seifenblasen bildet, die an den Kanten meines Küchentisches einfach zerplatzen.
    » Macht nichts«, sage ich, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich gehen werde, dass ich rennen werde, so schnell ich kann.
    Es ist nicht der Wunsch, allein zu sein, der mich aufstehen und etwas zum Abschied sagen lassen wird. Es ist nicht der Sog aus Selbstmitleid und Wahn, der immerzu Botschaften wie » keiner versteht dich« und » alleine bist du besser dran, dann sieht auch keiner, was für ein Wrack du bist« flüstert, und es ist auch kein Antrieb aus Selbstzerstörung oder Fatalismus. Es ist die so drängende, so dringliche Erkenntnis, dass Einsamkeit keine Attitüde mehr ist, sondern eine Notwendigkeit, die heilt.
    Kein Mensch kann Wunden flicken, die ihm selbst nicht gehören, die unsichtbar verborgen zwischen einem Lächeln und hysterischem Schreien am Telefon nachts um vier liegen. Kein Mensch kann tragen, was ich noch gar nicht abgelegt, was ich noch gar nicht verstanden und überwunden habe. Kein Mensch kann mir die Hand halten, die mir die Kehle und den Verstand zudrückt, und kein Mensch kann Tränen trocknen, die aus einer Zeit stammen, in der es ihn noch gar nicht im eigenen Leben gab.
    Sicherlich: Einen Versuch ist es vielleicht wert. Wir könnten uns anfassen, könnten unsere Gedanken zu Geschichten und unsere Geschichten zu einem Wir machen, das lebt und lacht und sich weiter anfasst und hofft, dass schon halten wird, was versprochen ist. Wir könnten uns vielleicht geben, was wir uns nehmen, wir könnten vielleicht miteinander wollen, was wir alleine ausgedacht haben.
    Aber am Ende will ich Johannes nicht, weil ich mich nicht will, mich, diese Ida, die noch gar nicht weiß, was Leben bedeutet, wenn es sich auf sich selbst und nicht auf Gedanken im Präteritum stützt.
    » Ich kann nicht. Nein, das ist gelogen. Ich will nicht. Ich will nicht, dass du in meiner Wohnung bist. Dass du hier aufräumst, dass du meine Flaschen wegbringst, dass du an diesem Tisch sitzt. Ich will nicht, dass du das machst, und ich will nicht, dass du das willst. Ich will, dass du aufhörst irgendeine verquere, romantische Vorstellung davon

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